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Albert Cohen: Oh, ihr Menschenbrüder, 1972
Mit Literatur gegen Hass
In einer Zeit, in der Rassismus und Antisemitismus wieder verstärkt in Erscheinung treten – in Europa und weltweit –, gewinnt Albert Cohens Erzählung «Oh, ihr Menschenbrüder» von 1972 erschreckende Aktualität. In einer eindringlichen, fein nuancierten Erzählung schildert Cohen eine prägende Episode seiner Kindheit: An seinem zehnten Geburtstag wird er 1905 in Marseille von einem Strassenhändler als «dreckiger Jude» beschimpft und von einer jubelnden Menge verstossen – und dies ausgerechnet in Frankreich, das der Junge Albert für seine Kultur und Sprache so liebte. Diese Szene zerstört sein Vertrauen in die Welt und markiert das brutale Ende seiner Kindheit.
Die Erzählung ist keine wütende Anklage, sondern eine tief bewegende literarische Reflexion über die zerstörerische Kraft des Hasses und die Folgen von Ausgrenzung. Cohen führt uns mit grosser Empathie in die Seele des Kindes und lässt uns den emotionalen Bruch mitfühlen, der den zehnjährigen Albert für immer prägen sollte. Die Intensität, mit der Cohen diesen Verlust der Unschuld schildert, verleiht dem Text eine zeitlose Dimension: Die Erfahrung des Einzelnen wird zur universellen Erzählung über den Schmerz der Diskriminierung und der Entmenschlichung.
Albert Cohen, der mit seinem legendären Jahrhundertroman «Belle du Seigneur» («Die Schöne des Herrn») als einer der bedeutendsten französischsprachigen und Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gilt, zeigt in dieser Erzählung seine sprachliche Meisterschaft. Die emotionale Tiefe seiner Prosa machen «Oh, ihr Menschenbrüder» zu einem 100-seitigen literarischen Kleinod, das weit über die individuelle Erfahrung hinausgeht.
«Bevor der Sarg langsam herabgesenkt wird, will ich eine Art Testament für die hinterlassen, die sich noch bewegen werden, während ich, von ihnen befreit, derart unbeweglich sein werde», schreibt Cohen. Damit zeigt der Schriftsteller, dass Literatur weit mehr als blosse Fiktion sein kann: Sie wird zum Appell an unsere Toleranz.
Sein Werk erinnert uns daran, wie wichtig es ist, den Wert jedes Menschen zu erkennen, unabhängig von Herkunft oder Religion. Auch wenn die Welt oft unbegreiflich und grausam erscheint, wir angesichts des Hasses hilflos und ohnmächtig sind, können wir das Richtige tun. «Oh, ihr Menschenbrüder» zeigt, dass wir durch Respekt, Verständnis und Mut einen Unterschied machen können. Wir müssen nicht alles verstehen, alle Antworten kennen, um mit Menschlichkeit zu handeln.
Albert Cohen: Oh, ihr Menschenbrüder. Erzählung. ça ira-Verlag, 2024, deutsche Erst-Übersetzung Ahlrich Meyer. (Éditions Gallimard, 1972) 124 S. etwa Fr. 29.-
Graphic Novel des Buchs von Albert Cohen «Ô vous, frères humains». LUZ, ein überlebender Zeichner des Anschlags auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo», hat das Buch 2016 adaptiert. Futuropolis, 2016. 112 S. 20 x 27 cm, etwa Fr. 29.-
Siehe Link zu Instagram für mehr Bilder und Kurzfassung
Siehe auch Beitrag über Albert Cohen: Belle du Seigneur («Die Schöne des Herrn») in 99 beste Schweizer Bücher
- Lebensdaten: 1895 (Korfu / Griechenland) – 1981 (Genf)
- Originaltitel: Ô vous, frères humains
- Lesetipps:
«Solal» (1930)
«Eisenbeisser» (1938; «Mangeclous»)
«Die Schöne des Herrn» (1968, «Belle du Seigneur»)
«Die Tapferen» (1969; «Les valereux») - Fussnoten:
«Die Schöne des Herrn» ist der dritte Band der «Solal»-Tetralogie und gilt in Frankreich als einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. So haben im Dezember 2019 26’000 Leserinnen und Leser der Tageszeitung «Le Monde» «Die Schöne des Herrn» auf den achten Platz der besten Romane gewählt, noch vor Victor Hugos «Les misérables» oder Alexandre Dumas «Le Comte de Monte-Christo». Zur Auswahl standen 11’000 Bücher.
Die Erzählung «Oh, ihr Menschenbrüder» nennt Cohen sein Vermächtnis und endet mit der Aufforderung, die Freude kennenzulernen, «nicht zu hassen.
# Antisemitismus, Kindheit, Menschlichkeit, Vergebung