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Aline Valangin: Casa Conti, 1944
Feines Gespür für die Zeit
Das Buch «Casa Conti» von Aline Valangin verströmt immense Ruhe. Dabei drehen sich die Ereignisse um die Zerrissenheit. Die Ruhe entspringt der mächtigen Casa, ihren trutzigen Mauern, die seit Generationen unverrückbar und gleichmütig der Zeit wie den Naturgewalten gegenübersteht. Aline Valangins unprätentiöser, eleganter Schreibstil und ihr scharfes Auge halten die Beobachtungen in präziser Sprache fest, zeichnen die Familienmitglieder, die Dorfbewohner und die Umgebung mit feinem Gespür, dokumentieren den Alltag, die Brüche. Die zeitliche Distanz zu ihrem Blickpunkt von 1944 verleiht der heutigen Lektüre eine zusätzliche, historische Facette.
Alba, aristokratisch schön, kommt nach zehn Jahren Abwesenheit und einem mondänen Leben in Mailand zurück in ihr Heimatdorf. Sie tritt unter dem Schrillen der Ladenglocke ein in die kühle Metzgerei ihrer feist gewordenen Schwester Lisetta. Nach den notwendigen Begrüssungsworten schweift der Blick durch den Laden, über den graugrünen Geldschrank, die mit Gitter gesicherten Fenster, die kahlen, weissen Wände, den hell gescheuerten Granitboden. Alba rühmt die Ordnung, da sie nichts anderes zu sagen verspürt. Mit wenigen Zeilen skizziert Valangin das sprachlose Verhältnis zwischen den Schwestern. Alba wird mit der Postkutsche das Tal hinauffahren zum Geburtshaus der Conti, wo der Vater wohnt. Ohne viele Worte wird sie aufgenommen, findet ihre Ruhe nach dem bitteren Zusammenbruch von Ehe und Finanzen. Lisetta und ihr Deutschweizer Metzgersgatte fürchten um das eingeplante Erbe des Familiensitzes und intrigieren. Die Situation eskaliert – und mündet in ein unvermutetes Ende.
Aline Valangin, Pianistin, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, führte gemeinsam mit ihrem ersten Mann, dem Schweizer Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum, am Zürcher Stadelhofen einen offenen Salon für Künstler, Literaten und verfolgte Exilanten. Ab 1929 verbrachte sie die Sommermonate in Comologno, dem hintersten Grenzort des Onsernonetals, empfing dort ihre Künstlergäste (so Kurt Tucholsky, das Ehepaar Arp, C.G.Jung, Ignazio Silone oder Meret Oppenheim). Valangin fühlte sich hier verwurzelt, zugehörig und schrieb bald aus Tessiner Perspektive über den Alltag, die Grenzsituation des Dorfs und kritisch über die Asylpolitik während des 2. Weltkrieges. Später lebte sie zusammen mit ihrem zweiten Mann bis zum Tod 1986 in Ascona. Die Begebenheiten aus ihren Beschreibungen und der Rahmenhandlung von «Casa Conti» kennt Valangin aus eigener Erfahrung. Im Roman lässt sie die verschiedenen Lebenswelten zusammenprallen: Die Lebensentwürfe der ungleichen Schwestern, die Differenzen von Deutschweizern und Tessinerinnen, die Bauernsitten und die Zukunftsprojekte der Enkel, die rechtliche Ungleichheit von Frauen, die von ihren Gatten (vor-)geführt werden.
Die Ruhe findet Alba unvermutet in der väterlichen Casa Conti, den Erzählungen des Vaters, im Schweigen mit ihm, im Garten, in den Blumendüften, dem Erdreich, im Brummen der Insekten. Da wird ihr bewusst, wie das Tessiner Heim ihr in der turbulenten Ferne Halt gegeben hatte. Sie beginnt, die wilden Grüntöne der Natur vor Augen, die Formen der Blätter, die Stauden, Ranken, Früchte, Rispen und Samen Strich für Strich umzusetzen auf ihrem Webrahmen. Während die flinken Finger aus der pflanzlichen Wirrnis eine feine Weberei herausarbeiten, finden Albas Gedanken ihren inneren Weg. Mit dem Tod des Vaters wird die Casa Conti, die Heimat in ihrem Leben, nach einem Sommer zur Insel, von der sie sich wieder aufmachen wird. Die Casa hingegen steht weiter allein am Anfang des Dorfes, inmitten eines sanft ansteigenden und in Terrassen geordneten Geländes, unbeirrt ob dem Fluss der Bewohner und Bewohnerinnen, Generationen und Familienzweige, dem Wandel der Zeit – ein Ruhepol. Ein Lesevergnügen!
Aline Valangin: Casa Conti. Limmat Verlag, 2022. 224 S., Fr. 34.-
(Erstausgabe: Hallwag Verlag, Bern, 1944)
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Aline Valangin auch in «99 beste Schweizer Bücher» Verlag Nagel & Kimche
- Lebensdaten: 1889 (Vevey) – 1986 (Ascona)
- Lesetipps: «Tessiner Novellen» (1937), «Die Bargada» (1944), «Dorf an der Grenze» 1946, publiziert 1982)
- Fussnoten: Das Ehepaar Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin waren zwei kunstsinnige und wortgewaltige Menschen, die ihre offene Ehe lebten und aufgrund ihres Engagements genauso Zielscheibe faschistischer wie antisemitischer Hetze wurden. Sie waren Vertraute ihrer avantgardistischen Besucher: u.a. Hans Arp, Elias Canetti, Max Ernst, James Joyce, Kurt Tucholsky.
Lesenswert auch Eveline Hasler: Aline und die Erfindung der Liebe. Nagel & Kimche / dtv sowie Peter Kamber: Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, Limmat Verlag
#Heimat, Natur, Suche, Emanzipation