Anna Felder: Circolare, 2017

Circolare

Ein sonniger Nachmittag, auf der Terrasse des Restaurants herrscht Gedränge. Am Tischchen der Ich-Erzählerin pulsiert ein seltsames Begehren, das mindestens so sehr von den Dingen kommt wie von den Menschen. Es drückt sich aus im Prickeln des San Pellegrino im Glas, in der Unruhe der Segel, die sich, aufgereiht wie Klosterschülerinnen, für den Wettbewerb bereit machen. Dann kommt die Hauptfigur ins Bild. Ein glänzender blauer Motorradhelm, den ein offensichtlich verliebter Mann auf dem Stuhl gegenüber der Ich-Erzählerin platziert. Während er sich seiner Gefährtin widmet, ihre Hände «streichelt und küsst, als wären es zwei ihm hingestellte Tässchen», beginnt eine geheimnisvollere Liebesgeschichte zwischen dem Helm und seinem Gegenüber. Auch hier erleichtert das Wetter den Kontakt. Als die Zeitung der lesenden Frau davonfliegt, erklärt sie dem Helm, der Wind sei schuld. Der blaue Schädel liegt gutmütig da; «man möchte daran lecken wie an einem Rieseneis; Blau kühlt, doch vielleicht glüht es, oder fiebert.»

Der Prosaband «Circolare» versammelt lauter solche Miniaturen; oft mit Objekten im Mittelpunkt. In «Amen in Olten» gehört die Erzählstimme einem Personenzug, der seine Passagiere beobachtet und etwas enttäuscht ist über deren Gleichgültigkeit seinen Bemühungen gegenüber. In «Ich zahle alles, sagt das Ei» dreht sich die Welt um – ein Ei. In «Ohne Geige» werden Geigerin, Geige, Katze und Schlaf enggeführt zu einer traumartigen Collage: «Erst Geigerin, dann Katze. Nein, erst Katze, dann Geigerin. Sie spielt und schläft und schläft und spielt. … Sie ist im Stehen über der Geige eingeschlafen im Saal vor allen; so träumt die Geige den Traum laut weiter, umso lauter, himmlischer und ferner, je tiefer der Schlaf ist.»

Bei Anna Felder vermischt sich der ethnografische Blick für die Details des alltäglichen Lebens organisch mit einem poetischen Gefühl für Zwischentöne. In der Empathie für die Dinge spiegelt sich ein tiefes Verständnis für die Menschen und ihre ephemere Existenz. Das Glück leuchtet zufällig und augenblicksweise auf wie Silberschmuck in der Dämmerung, oder wie der erwähnte blaue Helm in der Nachmittagssonne. So entstehen musikalische Texte von beinah durchsichtiger Zartheit und sanftem, manchmal hintersinnigem Humor.

Anna Felder: Circolare. Prosa. Übersetzt von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser, Clà Riatsch. Limmat Verlag 2018, S. 144.
Vergriffen, nur antiquarisch erhältlich oder als E-Book, Fr. 20.-

Aus: 99 beste Schweizer Bücher

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  • Lebensdaten: 1937 (Lugano) – 2023 (Aarau)
  • Originaltitel: «Liquida», Edizioni Opera Nuova, Lugano, 2017
  • Lesetipps: «Quasi Heimweh» (1970), «No grazie» (2002), «Die Adelaiden» (2010)
  • Fussnoten: Anna Felder wurde seit den 1970er Jahren mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet, so 2018 mit dem Grand Prix Literatur. Bis 1999 arbeitete sie als Italienischlehrerin an der Alten Kantonsschule Aarau. Die (eigentlich grossformatige) Kohlezeichnung von Luca Mengoni, in der er das schwebende Motiv aus dem Kohlestaub herauslöscht, hat Anna Felder als Buchumschlag für «Circolare» gewählt.

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