Anna Ospelt: Wurzelstudien, 2020

Vielleicht ist das ein Roman, der einmal entstehen könnte

Sie möchte kein Baum werden. Sie möchte ein Baum werden wollen, heisst es in Anna Ospelts Buch «Wurzelstudien» einmal. Der Baum vielleicht, um den sich alles dreht in diesem wunderbaren Buch: der Baum im Garten von Anna Ospelts Elternhaus. Auf ihn muss den Henry Goverts geblickt haben, als er in dem Haus lebte, das früher dort stand. Unter ihm hat die Erzählerin gespielt, als sie ein Kind war. Das Haus wurde abgerissen. Aber der Baum, eine Hängebuche, steht noch immer. Und stiftet eine Verbindung zwischen der Ich-Erzählerin und Goverts, dem deutschen Verleger, der wenige Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland fliehen musste, weil ihm Verbindungen zur Widerstandsbewegung Kreisauer Kreis nachgewiesen werden konnten.

Die Person von Henry Goverts ist eine der Fluchtlinien in diesem Buch. Die Erzählerin stellt Recherchen an über ihn, den sie über die Zeiten als einen entfernten Wahlverwandten erkennt. Der Baum in Henry Goverts Garten wird zu Henry Govert, und irgendwie ist er auch der geheime Mentor und vielleicht sogar Verleger von Anna Ospelts Buch. Es kann kaum ein Zufall sein, dass Anna Ospelt im Staatsarchiv Hamburg unter dem Namen Goverts statt Ospelt als Benützerin registriert wird.

Aber damit ist erst angedeutet, worum es in diesem Buch geht, das auf 125 locker gefügten Seiten einen Kosmos von Betrachtungen, Vermutungen, Beobachtungen und Ansätzen zu Erzählungen entwirft. Es geht um Botanik, zum Beispiel um Wurzeln, die Pflanzen sesshaft machen, indem sie sie fest mit dem Boden verbinden. Und um Rhizome, die so etwas wie schweifende Verbindungen schaffen. Darum, wie wir Menschen uns in einer Welt wiederfinden, in der alles mit allem verbunden ist. «Wurzelstudien» ist eine Erzählung über nichts. Ein Gedicht über alles. Und vielleicht der Roman, der aus den wunderbar schwebenden Notizen entstehen könnte.

Anna Ospelt: Wurzelstudien. Limmat Verlag, 2020. S. 128, 40 Fotos. Etwa Fr. 28.

 

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  • Lebensdaten: *1987 in Vaduz
  • Erstausgabe: Limmat Verlag, Zürich
  • Fussnoten: Anna Ospelt hat in Basel Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaft studiert. Seit 2011 publiziert sie in Anthologien und Literaturmagazinen Kurzgeschichten und Lyrik. Für ihren Erstling «Wurzelstudien» erhielt sie ein Stipendium der Stiftung Nantesbuch im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing. Sie war Stipendiatin des Literarischen Colloquiums Berlin. Im Frühling 2023 erscheint ihr zweites Buch «Frühe Pflanzung»

    #Identität, Natur, Heimat, Geschichte, Sprache, Ich