Carlo Bernasconi: Der Italiener, 1987

Italienische und kulinarische Bruchstücke

«Der Italiener» des Zürchers Carlo Bernasconi (1987) ist in einer schmucken Aufmachung aus dem Telegramme Verlag wieder zu lesen. Der kurze Roman über die Reise eines Ich-Erzählers ins Land seiner Vorfahren tanzt aus der Reihe der üblichen dokumentierenden Migrationsliteratur. Dies liegt einerseits an der ausgesprochen literarischen Sprache und der elaborierten Erzählweise, aber auch an der Zeitspanne, welche der Roman in den Fokus nimmt: die Zeit der beiden Weltkriege, als Deserteure und Genossen aus Italien in die Schweiz flohen und in Städten wie Zürich bedeutsame Orte der sozialistischen Arbeiterbewegung – wie schon 1905 das Ristorante Cooperativo – begründeten. Viele Norditaliener, Landarbeiter ohne eigenen Boden, verliessen damals unfreiwillig ihre Heimat; die Region Venetien beispielsweise war trotz der Fülle an kulturellen Reichtümern von grosser Armut geprägt. Aussergewöhnlich machen diesen Roman zudem jene Passagen, in welchen der 2016 verstorbene Zürcher Autor, Journalist und Gastronom Bernasconi die norditalienische Küche feiert. Das Zubereiten eines «Forellenrisottos» oder der mit Tomaten und Garnelen überbackenen Auberginen ist nicht nur derart ausführlich beschrieben, dass Lust aufkommt, es gleich auszuprobieren, sondern die Rezepte selbst sind Literatur. Kein Wunder ist auch der Ich-Erzähler Michele D’Ambrosio ein leidenschaftlicher Koch. Ursprünglich Dolmetscher von Beruf fährt er nach Venetien, um die kulinarischen Gepflogenheiten seiner Vorfahren zu studieren. Er ist enttäuscht von der Gastronomie in der Schweiz, von der fehlenden Liebe und Hingabe in den Küchen. In seinem Gepäck fährt ein Stapel Briefe der Grossmutter mit, die in den Roman hineinmontiert sind. Zunehmend wird die kulinarische Forschungsexpedition zu einer Reise zu den Vorfahren und eigenen Wurzeln. Die als Briefdokumente gestalteten Kapitel geben Einblick in eine Welt von gestern, die von Armut und Entbehrung geprägt war und von politischer Flucht und unfreiwilliger Migration, von zurückgelassenen Frauen und getrennten Familien erzählt. Es sind die Jahre, als an der  Zürcher Langstrasse italienische Familien ansässig waren und Aussersihl noch kein Szene-Viertel war. Schliesslich sorgt ein ungelüftetes Geheimnis um die an Schizophrenie erkrankte Tante Giovanna für Spannung. Nach einem traumatischen Vorfall verlässt diese 1939 die Schweiz und fährt zurück nach Italien, zu einem Zeitpunkt, als die Welt schon im Krieg war. Bruchstück um Bruchstück setzt der Ich-Erzähler die Biografie seiner Tante zusammen, die für das Schicksal von vielen Migrantinnen steht. Bernasconis Erzählweise ist authentisch und stimmig, so dass die Handlung von Beginn weg Fahrt aufnimmt, die Lesenden hineinzieht und eindrückliche Szenen und unvergessliche Bilder (und Rezepte) hinterlässt.

Carlo Bernasconi: Der Italiener. Telegramme Verlag, 2023.  S. 170, etwa Fr. 20.-

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  • Lebensdaten: 1952 – 2016
  • Lesetipps: Die Bücher «Der Mann» (1983) oder «Mann ohne Schatten» (1996) sind derzeit nur antiquarisch erhältlich, die Kochbücher (italienisch & vegetarisch) sind im AT Verlag und JacobyStuart erhältlich.
  • Fussnoten: Carlo Bernasconi war ein Zürcher Journalist, Restaurateur, Kochbuchautor – und als Schriftsteller der Chronist seiner Generation. Mit der posthumen Neuausgabe seines Romans «Der Italiener», der 1987 erstmals erschien, kann eine wichtige Schweizer Stimme wiederentdeckt werden.

    #Migration, Geschichte, Erinnerung, Kulinarik