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Charles-Ferdinand Ramuz: Aline, 1907
Diese Geschichte spielt nirgends und überall. Ausserhalb der Zeit. Irgendwann, in einem Dorf, wie es sie zu Hunderten gibt: einfache Häuser, eine Kirche, Felder. Obstgärten, ein Wald, Kühe, ein paar Ziegen. Menschen, denen der Alltag nicht viel mehr lässt, als die Luft zum Atmen. Hat Liebe Platz in so einer Welt, in der man es nicht einmal wagt, verhaltene Zuneigung zu zeigen, weil es als ausgemacht gilt, dass Liebe etwas für «die anderen» ist? Für die, die es sich leisten können an etwas anderes zu denken als an das, was der Tag von einem fordert? «Aline» erzählt davon, was geschehen kann, wenn in einer solchen Welt auf einmal eine Liebe wächst, die keine Grenzen kennt.
Aline ist siebzehn und lebt mit ihrer Mutter ein Leben, in dem man tut, was getan werden muss. «Sie sah, was gut ist, was schlecht ist; weiter wartete sie ihre Sterbestunde ab», heisst es von Alines Mutter. Die Tage sind einer wie der andere, sie kommen und gehen. Wochen werden zu Jahren, es wird Frühling, Sommer, Herbst und Winter, aber das nimmt man schon kaum mehr zur Kenntnis. Es geht alles seinen Gang, und man hat schon lange aufgehört zu fragen, was das denn sein könnte, was da unerbittlich seinen Gang geht. Nur «die Liebe tritt ins Herz, ohne dass man es hört; aber wenn sie einmal drinnen ist, schliesst sie die Tür hinter sich zu.»
Aline kennt Julien schon lange. So, wie man sich eben kennt. Vom Dorf, von der Schule. Man sieht sich, hat vielleicht schon einmal schüchterne Blicke getauscht. Aber eines Tages begegnen sich die beiden und sehen sich so, als sähen sie sich zum ersten Mal. Aline ahnt, dass Leben etwas anderes sein könnte als das Einerlei, das die Leere zwischen Gestern und Morgen nur notdürftig füllt. Julien wirbt um Aline mit der Entschlossenheit dessen, der weiss, was er will und für den eine Sache erledigt ist, wenn er sie bekommen hat. «Die Liebe, die er hatte, war ein Hunger, der vergeht, wie eben ein Hunger vergehen kann». Juliens Hunger vergeht, Aline bleibt zurück. Mit einem Kind, für das nirgends ein Platz ist. Genauso wenig wie für Aline und ihre Liebe.
«Aline« sei nur eine einfache Geschichte, sagte Ramuz, als das Buch 1927 im renommierten Pariser Verlag Grasset neu aufgelegt wurde. Als er es geschrieben habe, sei er «ein kleiner Junge» gewesen. Das war die Koketterie eines arrivierten Autors, der über seinen Erstling sprach – ein Buch, das mehr als zwanzig Jahre früher entstanden war. Aber hinter der gespielten Bescheidenheit spürt man Ramuz’ eigenes, fast ungläubiges Staunen über das, was er geschrieben hatte. Und das erfasst einen noch heute, wenn man «Aline» liest. Das Staunen über ein Buch, das von der Unbedingtheit der Liebe erzählt, und von der Kälte der Welt. Von der Dummheit der Menschen, die nicht wissen, was Liebe ist, und davon, dass Recht hat, wer sich nicht vom Gesetz der Menschen bestimmen lässt. Ramuz erzählt es so leise, dass man genau hinhören muss. Und so schreiend, dass man erschauert.
Sturz in die Sonne (1922), Die grosse Angst in den Bergen (1926), Erinnerungen an Igor Strawinsky und Robert Auberjonois (1928)
- Lebensdaten: 1878 (Lausanne) – 1947 (Pully)
- Orginaltitel: «Souvenirs sur Igor Strawinsky»
- Lesetipps: «Derborence» (1934), «Die grosse Angst in den Bergen» (1926), «Farinet oder das Falschgeld» (1932)
- Fussnoten: Charles-Ferdinand Ramuz schaffte es als «einen der bedeutendsten französischsprachigen Schweizer Schriftsteller unseres Jahrhunderts» auf die 200-Franken-Banknote, eine seltene Ehre für einen Autor. Die Schweizerische Nationalbank schreibt: «Sein reichhaltiges literarisches Werk umfasst Romane, Essays, Gedichte und theoretische Schriften sowie Texte zu Kompositionen von Igor Strawinsky. Das Schaffen des Waadtländer Autors ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Wahrheitsliebe und strenge ästhetische Massstäbe. Im Zentrum seiner Werke steht der Mensch mit all seinen Hoffnungen und Wünschen. Als Hintergrund dienen grossartige Landschaftsschilderungen, in denen Gebirgsgegenden und Seen einen besonderen Platz einnehmen. Auf der formalen Ebene gelingt Ramuz, durch den Einsatz neuer, der Malerei und dem Film entlehnter Ausdrucksformen, die Modernisierung des Romans.»