Charles Ferdinand Ramuz: Die grosse Angst in den Bergen, 1926

Nach der Lektüre von »Die grosse Angst in den Bergen« ist der Blick auf die Alpen eine andere. Die heile Welt der unberührten Natur, der erhabenen Schönheit weicht dem Bild eines unberechenbaren, zerstörerischen und apokalyptischen Lebensraums. In einem Walliser Dorf setzen sich die zukunftsorientierten Jungen gegen die Traditionalisten durch und ziehen zu siebt mit 70 Kühen auf die seit 20 Jahren verlassene Alp Sasseneire auf 2 300 Metern. Es locken Abenteuer und Geld.

Doch auf dieser Alp am Fusse des Gletschers lastet ein Fluch. Es herrscht etwas Unheilvolles, das Wahnsinn, Krankheit und Tod bringt. Die Jungen lassen sich vom Aberglauben der Alten, welche die Natur hoch oben über ihrem Dorf nicht herausfordern möchten, nicht aus der Ruhe bringen und steigen hinauf auf die Alp. Plötzlich beginnen die sieben Sennen Schritte zu hören. Steine rollen den Hang herunter, ein Maultier stürzt ins Tal, ein Gewehr explodiert, eine Seuche rafft einen Teil der Herde dahin. Die Angst schleicht sich allmählich in die Männer hinein, ist allgegenwärtig, nimmt laufend zu und mündet in eine Katastrophe, die Tier und Mensch auf der Alp und im Dorf auslöscht.

Ramuz bricht ganz bewusst mit der romantisierenden Beschreibung der Bauern, der Kühe und der Berge. Er nutzt die Stilmittel, die er während seines Aufenthalts in Paris bei den Surrealisten und Kubisten gelernt hat, um eine Art Anti-Heimatroman zu verfassen. Der Aufstieg vom Tal zur Alp gleicht einer phantastischen Reise vom Bodenständigen ins Mystische. Die archaische Natur – die Berge, der Gletscher, die Wiesen, die Sonne, der Tag, die Nacht, der Mond – zerfällt in Stücke. Farbflächen und Fragmente prallen aufeinander. Die Perspektive ändert sich, so dass man nie genau weiss, wer die Geschichte erzählt. Ebenso variiert das Tempo. Langsame Beschreibungen werden durch harte Schnitte unterbrochen wie in einem Film.

»Die grosse Angst in den Bergen« ist ein literarischer Aufbruch in die Moderne. Viele Szenen und Beschreibungen wird man nie mehr vergessen: So den dämonischen, existenzvernichtenden Berg, den zwischen Wahn und Ohnmacht schwankenden Joseph am Totenbett seiner Victorine oder die Schlägerei der Dorfbewohner mit den Holzkreuzen während der Beerdigung. Kurz bevor sie sich gegenseitig umbringen, rollt die grosse Zerstörung unaufhaltsam von der Alp auf das Dorf zu.

Siehe auch: C.F.Ramuz: Aline (1907), Sturz in die Sonne (1922), Erinnerungen an Igor Strawinsky und Robert Auberjonois (1928)   

Aus: 99 beste Schweizer Bücher

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  • Lebensdaten: 1878 (Lausanne) – 1947 (Pully)
  • Orginaltitel: «La grande peur dans la montagne»
  • Lesetipps: «Sturz in die Sonne» (1922/dt. 2023), «La beauté sur terre» (1927), «Souvenirs sur Igor Strawinsky» (1928), «Derborence» (1934), «Farinet oder das Falschgeld» (1932)
    «Die Geschichte vom Soldaten» (1918, «L’histoire du soldat», Musiktheater mit Igor Stravinsky. Ramuz› Romane wurden verschiedentlich verfilmt. 
  • Fussnoten: Charles-Ferdinand Ramuz schaffte es als «einen der bedeutendsten französischsprachigen Schweizer Schriftsteller unseres Jahrhunderts» auf die 200-Franken-Banknote, eine seltene Ehre für einen Autor. Die Schweizerische Nationalbank schreibt: «Sein reichhaltiges literarisches Werk umfasst Romane, Essays, Gedichte und theoretische Schriften sowie Texte zu Kompositionen von Igor Strawinsky. Das Schaffen des Waadtländer Autors ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Wahrheitsliebe und strenge ästhetische Massstäbe. Im Zentrum seiner Werke steht der Mensch mit all seinen Hoffnungen und Wünschen. Als Hintergrund dienen grossartige Landschaftsschilderungen, in denen Gebirgsgegenden und Seen einen besonderen Platz einnehmen. Auf der formalen Ebene gelingt Ramuz, durch den Einsatz neuer, der Malerei und dem Film entlehnter Ausdrucksformen, die Modernisierung des Romans.»
    Ein grossartiger, aktueller Autor.

    #Berge, Dorf, Angst, Tiere, Gewalt