Christian Haller: Sich lichtende Nebel, 2023

Wo bin ich, wenn mich niemand sieht?

Die beiden kennen sich nicht. Sie begegnen sich nicht einmal wirklich. Und doch sind sie miteinander verbunden. In der Novelle «Sich lichtende Nebel», die er auf seinen 80. Geburtstag am 28. Februar hin vorlegt, verbindet Christian Haller das Leben zweier Männer miteinander. Der eine geht an einem Frühlingsabend im Jahr 1925 durch Kopenhagen, der andere beobachtet ihn: einen Passanten, der dem Faelledparken entlang geht, bald sichtbar im Licht der Strassenlaternen, bald unsichtbar im Schatten der Bäume.

Der Beobachter ist Werner Heisenberg, ein junger Physiker, der im Institut des Nobelpreisträgers Niels Bohr arbeitet und mit Zweifeln kämpft. Die klassische Physik versagt vor den Beobachtungen, welche die Quantenphysiker bei ihren Experimenten machen. Elementare Gesetze scheinen nicht mehr zu gelten in der Welt der Atome. Da, wo die Welt im Innersten zusammenhält.

Der Beobachtete ist Helstedt, emeritierter Professor für Geschichte, Witwer. Sein Leben droht zu ersticken in einer Einsamkeit, gegen die ein streng geregelter Tageslauf und gelegentliche Treffen mit einem Freund nur wenig ausrichten können. Ein Tag vergeht wie der andere. Auch die kleinen Freuden des Alltags machen keine Freude mehr. Er möchte die Frau kennenlernen, die er manchmal beim Einkaufen sieht. Doch als er ihr durch einen Zufall begegnet, reden sie aneinander vorbei. Was er sagt, hat nichts mit dem zu tun, was er sagen möchte. Weil man das vielleicht gar nicht ausdrücken kann.

Heisenberg flüchtet. Weg von Kopenhagen. Nach Helgoland. Spaziergänge und Schwimmen im Meer. Nachts sitzt er über Berechnungen, Formeln, Gleichungen. Versucht zu verstehen, wo der Fehler liegt. Oder ob sich gerade im Fehler das verbirgt, was es zu begreifen gäbe. Und macht eine Entdeckung, die die Welt verändern wird. Wo war der Passant an jenem Abend beim Faelledparken, als er sich ausserhalb des Lichtkegels der Strassenlaternen befand? Wo sind die Dinge, wenn es niemanden gibt, der sie beobachtet?

Auch Helstedt ist verwirrt. Er hat eine Erfahrung gemacht, die ihn beglückt. Und zugleich beunruhigt. Eines Morgens sieht er die Welt für Augenblicke ganz anders. Durchscheinend, hell, flimmernd. Aber nicht einmal seinem Freund Sörensen kann er begreiflich machen, was er erlebt hat. Was es zu bedeuten hat, weiss er selbst nicht. Als er versucht, es aufzuschreiben, findet er in dem, was er geschrieben hat, nichts von dem, was sich ereignet hat: «Die Wörter begannen ihn zu befremden, als begännen sie wie Verdorbenes zu riechen.»

Aus der zufälligen Begegnung zweier Menschen spinnt Christian Haller ein feines Gegenstück zu seinen grossen Romanen. Mit seiner grossen «Trilogie des Erinnerns» und seinen drei autobiografischen Romanen hat er die Geschichte seiner Familie in der Geschichte des 20. Jahrhunderts gespiegelt und seine eigene Geschichte als Teil eines grösseren Ganzen zu verstehen versucht. In «Sich lichtende Nebel» entwirft er mit wenigen Strichen ein Stück über das, was uns in der Welt hält. Und was uns miteinander verbindet.

Christian Haller: Sich lichtende Nebel, Luchterhand Verlag, 128 S., etwa Fr. 30.-

 

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  • Lebensdaten: 1943 (Brugg)
  • Lesetipps: «Trilogie des Erinnerns» (2001-2006): «Die verschluckte Musik» (2001), «Das schwarze Eisen» (2004), «Die besseren Zeiten» (2006); Autobiografische Trilogie: «Die verborgenen Ufer» (2015), «Das unaufhaltsame Fliessen» (2017), «Flussabwärts gegen den Strom» (2020),  «Sich lichtende Nebel. Novelle» (2023)
  • Fussnoten: Christian Haller studierte Biologie, gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an und leitete eine Zeitlang das Badener Theater Claque. Mit der «Trilogie des Erinnerns» zeichnete er aus wechselnden Perspektiven die Geschichte seiner Familie: der Grossmutter, die aus Bukarest in die Schweiz ziehen muss, des Grossvaters, der sich aus einfachen Verhältnissen emporarbeitet und zum Industriellen wird, und seines Vaters, der in der Zeit des Wirtschaftswunders Mühe hat, Tritt zu fassen, und sich selbst und in seiner Zeit ein Fremdling bleibt.

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