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«Das Rätoromanische stirbt seit 150 Jahren»
Die Verlagsleiterin und Vermittlerin rätoromanischer Kultur, Anita Capaul, über den Alpenraum und die Einflüsse von aussen, die Wiedergeburt der rätoromanischen Literatur und deren Vorreiterinnen und Vorreiter, die Kraft einer «halbtoten Sprache» und ihre Coups de coeur.
Sie sind Präsidentin des Bündner Verlegervereins und seit 2010 Verlagsleiterin sowie Geschäftsführerin der Chasa Editura Rumantscha. Was verstehen Sie unter rätoromanischer Literatur?
Anita Capaul: Für mich besteht rätoromanische Literatur aus rätoromanischen Geschichten, rätoromanischen Figuren, rätoromanischer Belletristik sowie rätoromanischen Autorinnen und Autoren.
Seit wann existiert die rätoromanische Literatur?
Seit dem 16. Jahrhundert wird Rätoromanisch geschrieben, zunächst vor allem im Zusammenhang mit der Religion. Um 1900 nahm die literarische Produktion derart stark zu, dass man von einer «renaschientscha retorumantscha», der rätoromanischen Wiedergeburt, sprach. Vom Roman über Lyrik, Rap und Comics, e-books und Hörbücher – die rätoromanische Literatur findet und experimentiert mit neuen Formen und Formaten und ist dennoch Ausdruck einer rätoromanischen Kultur. Mittlerweile zählen wir fast mehr Autorinnen als Autoren.
Kann es überhaupt eine rätoromanische Kultur geben, eine gemeinsame literarische Tradition oder Identität?
Ein Bonmont sagt: Graubünden bestehe aus 150 Tälern und 150 Welten. Hinzu kommen die drei Sprachen Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch sowie die fünf Idiome Vallader, Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran und Puter.
Der Kanton Graubünden ist in der Tat sehr mannigfaltig, was bereichernd und interessant ist. Völkerwanderungen, konfessionelle Glaubensentscheidungen und die geografische Lage haben einen Raum geschaffen, in dem sich eine grosse kulturelle und traditionelle Vielfalt entwickelte. Der Austausch und die Einflüsse von aussen sind seit jeher zentral für die meisten Täler und haben zur Bildung einer Kultur beigetragen. Wir alle leben im alpinen Raum. Dieser prägt uns, bildet eine Klammer, einen gemeinsamen Nenner, eine kulturelle Basis. Und dieser Raum generiert dieselben Themenkreise: Gemeinschaft und Moral, Natur und Überleben, Schicksale und Emigration, Liebe und Schmerz.
Wie zeigt sich der Einfluss von aussen in der Literatur?
Der Kontakt mit fremden Sprachen und Literaturen wirkte sich befruchtend auf unsere Sprache aus. Die rätoromanische Literatur begann, mit neuen Formen und Themen zu experimentieren, und öffnete sich für die Strömungen der grossen Kultursprachen und der Weltliteratur. Heute dominieren längst nicht mehr religiös erbauende Texte, didaktische Textformen und politische Dramen unsere Literatur. Vielmehr sind psychologische Erzählungen, Kurzgeschichten und Romane entstanden, die regelmässig in die anderen Landessprachen übersetzt werden.
Mit welchen Themen beschäftigen sich die rätoromanischen Autorinnen und Autoren heute?
Natur, Heimweh und Heimat haben generell an Bedeutung verloren. Für die jungen Autorinnen und Autoren, von denen einige auch auf Deutsch publizieren, ist die rätoromanische Sprache nicht mehr Schutzraum, sondern eine der möglichen Ausdrucksformen in einer sich schnell ändernden Welt. Einige Autorinnen und Autoren beschäftigen sich durchaus noch mit traditionellen Themen wie Bergen, Jagd und Heimat, aber in einer neuen, innovativen Sprache.
An wen denken Sie?
An Leo Tuor, der die Charaktere klar und kompromisslos mit einem breitgefächerten Sprachgebrauch beschreibt, oder an Leta Semadeni, die ihre Gedichte radikal herunterbricht, Arno Camenisch, der romanische Wörter und Wendungen fliessend in seine Texte integriert, sowie Jessica Zuan, die sich aus dem Romanischen hinaus über mehrere Sprachen poetisch bewegt.
Seit zehn Jahren leiten Sie den Verlag Chasa Editura Rumantscha. Wie sehen Sie Ihre Aufgabe: in der Förderung der rätoromanischen Literatur oder im Erhalt der schweizerischen Multikulturalität?
Unsere Kernaufgabe ist es, die rätoromanischen Autorinnen und Autoren zu begleiten, zu fördern und ihre Sprache zu vermitteln. Bei uns nimmt die schriftliche Sprache eine wichtige Stellung ein, und zwar vom Erwerb und der Entwicklung der Sprache bis zur Identitätsbildung.
Wie viele Bücher geben Sie pro Jahr heraus?
Es erscheinen etwa acht Bücher pro Jahr.
In welcher Sprache, in welchen Idiomen?
Gut ein Drittel ist zweisprachig (rumantsch/deutsch), der Rest ist bunt durchmischt, das heisst in allen Idiomen inklusive Rumantsch Grischun. Unsere Auflagen bewegen sich zwischen 500 und 1500 Exemplaren, was angesichts der Anzahl Rumantsch-Sprechenden sehr hoch ist.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und den Autorinnen und Autoren?
Wie bei jedem anderen Verlag auch: Es ist ein steter Austausch während allen Schritten vom Manuskript bis zum Buch.
Können Ihre Autorinnen und Autoren vom Schreiben leben?
Wie in allen Künsten: höchst selten!
Wie gehen Sie mit der Vielsprachigkeit um, dem Rumantsch Grischun, der 2001 eingeführten einheitlichen Amtssprache, und den fünf Idiomen?
Da sind wir ganz pragmatisch: Überzeugt ein eingereichtes Manuskript, wird es in der eingereichten Version publiziert.
Wie gross ist das Interesse anderer Sprachregionen an rätoromanischer Literatur?
Erfreulicherweise sehr hoch. Wir sind sehr gut in der Schweizer Literaturszene integriert und in stetem Austausch mit anderen Verlagen und Literaturveranstaltern.
Gibt es thematische Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der rätoromanischen Schweiz?
Früher war dies sicherlich klarer: die rätoromanischen Autorinnen und Autoren setzten sich mit alpinen Themen und deren Umfeld auseinander. Heute dominieren ganz andere Themen wie Abwanderung, Mobilität und Urbanisierung.
Profitiert die rätoromanische Literatur von der wachsenden Bündner Bevölkerung in der Deutschschweiz, namentlich in Zürich? Oder verliert sich im Gegenteil in der Fremde das Interesse?
Aus meiner Sicht ist dies sowohl Gewinn als auch Chance. Gerade in der Ferne gewinnen Herkunft und Identität an Bedeutung. Dafür ist die Definition der Sprachzugehörigkeit und die Auseinandersetzung mit der Kultur wichtig, wozu auch die Literatur zählt.
Seit Jahren spricht man von der «existenziellen Bedrohung» der rätoromanischen Sprache. Wie ernst ist die Lage für die Literatur?
Wir sterben bereits seit über 150 Jahren (lacht). Die demografische Situation, die Abwanderung oder der tagtägliche Einfluss der deutschen Sprache sorgen seit Beginn des 20. Jahrhunderts für pessimistische Prognosen – und es gibt uns immer noch. Auch eine halbtote Sprache kann durch literarische und kulturelle Projekte, Publikationen und Bücher belebt werden.
Sie sehen sich als nicht als Totengräberin?
Überhaupt nicht. Ein Buch ist nach wie vor Zeitzeuge und Kulturvermittler. Es prägt die Identitätsbildung und unterstützt den Spracherwerb, beflügelt die Fantasie und bereitet Freude.
Cudeschs fan plaschair.
Zur Person
Anita Capaul, geboren im Val Lumnezia, ist Verlagsleiterin der Chasa Editura Rumantscha. Sie hat an der Universität Zürich Politologie, Psychologie und Rätoromanisch studiert, lebt in Chur und engagiert sich im Kulturbereich.
Fünf Lieblingsbücher rätoromanischen Literatur?
- Hendri Spescha: «Il giavin dalla siringia/Das Locken des Flieders»
- Leo Tuor: «Onna Maria Tumera»
- Leta Semadeni: «In mia vita da vuolp/In meinem Leben als Fuchs»
- Rut Plouda: «Sco scha nüglia nu füss/Wie wenn nichts wäre»
- Cla Biert: «La müdada»
Fünf Coups de coeur der Schweizer Literatur?
- Ludwig Hohl: «Bergfahrt»
- Erica Pedretti: «Fremd genug»
- Friedrich Dürrenmatt: «Justiz»
- Peter Bichsel: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen»
- Melinda Nadi Abonji: «Tauben fliegen auf»