Felice Filippini: Herr Gott der armen Seelen, 1943

Die Schuld, aus der es kein Entrinnen gibt

Sein Vater hält ihn für einen Versager, und Marcellino selbst hat keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen soll. Seit dem Tod seines kleinen Bruders erst recht nicht. Er bringt die Bilder nicht mehr aus dem Kopf: Hilflos musste er zusehen, wie Dante ertrank. An einer Stelle im Fluss, die niemand für gefährlich hielt. Bei einer flachen Sandbank. Es sah aus, als ob das Wasser kochen würde. Als ob es den armen Dante, der sich im Kreis drehte «wie ein ganz langsames Karussell» doch noch hergeben wollte. Dann war er auf einmal nicht mehr zu sehen. Marcellino wollte Hilfe holen. Es war zu spät.

«Herr Gott der armen Seelen» ist Felice Filippinis erster Roman. Als er 1943 erschien, erregte er Aufsehen. Im doppelten Sinn. Die Jury des renommierten «Premio Lugano» sprach ihm den ersten Preis zu, bevor er in den Buchhandlungen zu kaufen war. Allerdings nicht ohne Nebengeräusche. Der Präsident der Jury äusserte in der Laudatio Vorbehalte gegen das Buch, einzelne Jurymitglieder kritisierten den Entscheid öffentlich, und die Kirche sprach von einem Affront. Der Roman mache die den Menschen im Tessin innewohnende tiefe Religiosität lächerlich. Die Kritik reagierte positiv. In Filippinis Sprache war ein Ton zu hören, der an die moderne italienische Literatur erinnerte. An Cesare Pavese oder Ignazio Silone. 

Der Tod des Bruders ist der Angelpunkt dieser Erzählung. Sie umfasst vier Tage im Leben von Marcellino. Rückblenden führen von da in die Vergangenheit, kreisen um das Unglück und führen Marcellino immer tiefer in den Strudel von Angst und Verzweiflung, aus dem er sich nicht lösen kann. Kurz nach Dantes Tod besucht der Steinmetz Baciccia die Familie. Er will ihr einen Grabstein verkaufen. Der Vater gibt Baciccia Marcellino mit, als Lehrling. Marcellino möchte Bildhauer werden, sagt er. Aber vor allem will er weg von der Familie. Fort von der Erinnerung an den Bruder und vom Vater, der in seinem Schmerz über den verlorenen Sohn für nichts anderes mehr Platz hat. Am wenigsten für den älteren Sohn, der sich selbst vorwirft, am Tod des Bruders schuldig zu sein.

Die Tage bei Baciccia sind für Marcellino ein einziger dunkler Traum. Der Steinmetz führt ein Leben am Rand der Gesellschaft. Niemand will seine Skulpturen und Grabsteine kaufen. Sie entsprechen nicht dem, was den Leuten gefällt. Die Enttäuschung über seinen Misserfolg lebt Baciccia beim Trinken mit zweifelhaften Kumpanen aus. Marcellino hört ihren Gesprächen zu, beginnt von dem zu erzählen, was ihn nie mehr loslassen wird. Er sieht, was es heisst, kein Leben vor sich zu haben, wird in eine Schlägerei verwickelt. Es ist, als ob das Leben eine lange Nacht wäre.

Das ist bedrückend geschildert, grandios erzählt. Vielleicht der traurigste Roman der Schweizer Literatur. Eine Meditation über den Schmerz, den der Tod uns zufügt. Über die Angst, die uns umfangen hält. Und über die Schuld, aus der es kein Entrinnen gibt.

Felice Filippini: Herr Gott der armen Seelen. Hrsg. Charles Linsmayer, Vorwort Giovanni Bonalumi, Th.Gut Verlag, reprinted by Huber, 2017. S. 263, mit Zeichnungen des Autors, etwa Fr. 25.

 

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  • Lebensdaten: 1917 (Arbedo) – 1988 (Muzzano)
  • Erstausgabe: «Signore dei poveri morti» Istituto Editoriale Ticinese, Bellinzona 1943
  • Lesetipps: «Herr Gott der armen Seelen» ist das einzige Buch von Felice Filippini, das auf Deutsch greifbar ist. 
  • Fussnoten: Als Sohn eines Mechanikers in Arbedo geboren, studierte Felice Filippini kurz am Technikum in Freiburg im Üechtland, dann besuchte er das Lehrerseminar in Locarno und war als freier Schriftsteller und Maler tätig. Von 1945 bis 1969 war er Direktor der Abteilung Wort bei Radio della Svizzera Italiana.

    # Schuld, Tod, Schmerz, Familie