Franz Hohler: Das grosse Buch, 2009

Es gibt ein eigenes Leben in unseren Köpfen, diesen Kraftwerken der Vorstellungskraft und des Erzählens. Franz Hohler kennt sich dort aus, und er weiss, dass jeder und jede damit rechnen muss, ganz egal, ob sie den ganzen Tag in Bibliotheken verbringt oder einen riesigen Bogen um Bücher macht. Kaum liest oder hört man eine von Hohlers Geschichten, wird die Grenze zwischen Alltag und Fantasie durchlässig, auf leicht unheimliche, sehr abenteuerliche und immer wohltuend handfeste Art. In den »Tschipo«-Romanen dreht sich die ganze Handlung um diesen Grenzverkehr: Der kleine Tschipo träumt so intensiv, dass alles real wird, was er nachts im Bett erlebt. So erlebt er Abenteuer, von denen andere nur – ja, träumen können.

In seinen Kindergeschichten spielt Hohler mit den vertrauten Mustern des Erzählens. Märchen, Redensarten und Witze inspirieren ihn, und er variiert sie kunstvoll, frech und anarchisch. Er steuert direkt auf die Pointe zu und bringt seine Leserinnen und Leser (auch die älteren) gern zum Lachen. Bei allem Spass ist er ein leidenschaftlicher Aufklärer: Die Demokratie schlägt konsequent durch, das Märchenpathos wird zur Karikatur und die Klügsten sind die Kinder, die alles ganz genau wissen wollen. Trotzdem gibt es Prinzessinnen und Prinzen in Hohlers Geschichten, doch sie nehmen den Bus wie alle anderen Leute auch. Dafür beginnen noch die unscheinbarsten Würmer unter der Erde ihre Sätze mit einem »wohlan!«. Und wenn ein ganz normaler Mann ganz gewöhnlichen Hunger hat, konterkariert Hohler den hohen Ton, mit dem die Brüder Grimm ihre Märchen gern beginnen. Im »Froschkönig« heisst es: »Vor langer Zeit lebten ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: ›Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!‹ und kriegten immer keins.« Bei Hohler klingt das so: »Ein Mann suchte in seinem Kühlschrank ein Himbeerjoghurt, doch er fand keins.«

Die Geschichten, die Hohler erzählt, sind seit Generationen Teil unserer kollektiven und individuellen zweiten Welt geworden. Wenn zum Beispiel zwei alte Schachteln an der Bushaltestelle herumgifteln und über alle anderen lästern, denkt man sofort an die Geschichte vom unternehmungslustigen Prinzen und wie schlecht es den beiden alten Frauen darin erging. Dank Franz Hohlers Geschichte lächelt man milde, statt selbst zu einem aggressiven, verbitterten Lästermaul zu werden, und zwinkert dem Billetautomaten zu: wissend, dass er eine verzauberte Prinzessin ist – und dass die beiden Alten am Ende einen Kopf kürzer sein werden. Genau das macht Hohlers Geschichten aus: Sie sind in einem tiefen Sinn moralisch, sie regen zum Nachdenken an und leisten ihren Beitrag zu einer besseren Welt. Dabei sind sie auch einmal schonungslos und bitterböse, wenn es sein muss, und vor allem vibrieren sie vor Lust am Erzählen, Fantasieren, Fabulieren. Hier merkt man, dass Franz Hohler auch Musiker ist, dass er Themen und Einfälle variieren, verdichten und zuspitzen kann – von den Grenzen einer sogenannt realistischen, vernünftigen Logik lässt er sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil: Er haut ihr den Kopf ab.

Franz Hohler: Das grosse Buch. Geschichten für Kinder. Carl Hanser Verlag, 320 S., etwa Fr. 40.-

 

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Siehe auch Buchtipp Franz Hohler «Fümader passiv / Passivraucher» oder Instagram

Beitrag aus dem Buch «99 beste Schweizer Bücher»

  • Lebensdaten: 1943 (Biel)
  • Lesetipps: «Die Rückeroberung» (1982), «Die Steinflut» (1998), «Tschipo in der Steinzeit» (1995), «Fümader passiv / Passivraucher» (2021)
  • Fussnoten: Franz Hohler schreibt für alle, Kinder und Erwachsene, hat eine Ausbildung als Cellist, ist Kabarettist und engagierter Zeitgenosse. Er war einer der ersten Autoren, die sich in ihren Texten mit Umwelt- und Klimathemen auseinandersetzen.

#Abenteuer, Kindheit, Familie, Satire