Fritz Meyer: Ich, unter anderem, 1957

Ein Ich, das versucht, sich zurechtzufinden

Er liegt im Bett. Zimmer 24. Beim Skifahren hat er sich den Unterschenkel gebrochen. Operation. Bettruhe. Und viel Zeit. Zum Nachdenken, zum Träumen. Viel Zeit, um sich die Welt vorzustellen und sich zu fragen, wer man in dieser Welt sein möchte und sein könnte. Was man von sich erwartet. Und von den anderen. Und was das sein könnte, nach dem man sich sehnt, ohne es zu kennen: Liebe?

Fritz Meyers Roman «Ich unter anderem» beginnt gewissermassen in Rückenlage. Zur Untätigkeit verurteilt, denkt sich der Ich-Erzähler die Welt in seinen Kopf hinein. Oder phantasiert sich mit seinem Kopf die Welt hinaus, um immer wieder zu spüren, dass auch diese erdachte Welt nicht eine Welt ist, in der man sich heimisch fühlen könnte. Fritz Meyers Ich-Erzähler steht zur Welt in einem besonderen Verhältnis. In dem des Kranken, der nicht zur Welt gehört, oder des Kindes, das er einmal war.

Auf dem Rücken. «Tote, kleine Kinder und Kranke werden so gebettet; ausserdem kommt diese Lage der Frau als klassische Stellung beim Liebesakt zu, die eine Empfängnis begünstigt», hält er fest. Aber mit der Liebe ist es so eine Sache. Schwester Veronika pflegt ihn, sorgt für das, was er als Patient braucht, bringt Orangen. Aus dem Nichts kommt ab und zu eine Frau an sein Bett. Ein Engel? Vielleicht. Oder die Mutter? Wer weiss das schon. Manchmal besucht ihn Katharina. Aber viel zu selten. Und auch wenn sie ihn besucht, ist da eine Distanz, die sie nicht überbrücken will. Oder er nicht überbrücken kann.

Aus dem Spital entlassen, bewegt er sich unsicher durch die Stadt, taumelnd, auf Stöcken. Ein Fremder, der nicht weiss, was er mit sich anfangen soll, und ob er auf etwas vertrauen kann, wenn er sich auf sich selbst verlassen will. Das alles wird erzählt in einer Sprache, die heute, fast siebzig Jahre nach Erscheinen des Buchs, wirkt, als wäre sie heute geschrieben. Beklemmend, direkt und zugleich auf eine befreiende Weise schwebend. Erst recht im zweiten und dritten Teil des Buchs, die alle formalen Fesseln sprengen: rasch hingeworfene Notizen, Traumsequenzen, Beobachtungen. Reflexionen eines Ichs, das versucht, sich zurechtzufinden. In einer Welt, von der es nur etwas weiss: dass man in ihr nicht heimisch werden kann.

Fritz Meyer: Ich unter anderem. Roman. Atlantis-Verlag, Zürich 2022. 224 S., Fr. 32.90.

 

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  • Lebensdaten: Zürich 1914  – Zürich 1964 
  • Erstausgabe: «Ich unter anderem. Roman. Roman», Fretz & Wasmuth, Zürich 1957
  • Lesetipps: «Ich unter anderem» ist zurzeit das einzige Werk von Fritz Meyer, das in einer neuen Ausgabe vorliegt. 
  • Fussnoten: Fritz Meyer wuchs in Zürich-Enge als Sohn eines Schuhmachers auf, besuchte das Lehrerseminar in Küsnacht und unterrichtete zunächst als Primarlehrer. Dann begann er eine Ausbildung zum Sekundarlehrer und verbrachte Auslandaufenthalte in London und Paris. 1937 wurde er Sekundarlehrer in Bassersdorf. Nach dem Krieg begann er, Buchrezensionen für die «Neue Zürcher Zeitung» zu schreiben, 1946 gab er seine Stelle auf und lebte mit seiner Partnerin, der Malerin Isebies Chessex, in Paris als freier Autor in ärmlichen Verhältnissen. 1949 heirateten die beiden und wurden von Chessex’ Eltern unterstützt.  1954 erschien Meyers erstes Buch «Trois récits» bei den Editions de Minuit in Paris. 1957 erschien der Roman «Ich unter anderem» und 1958 die Erzählungen «Die Eröffnung des Denkmals». Anschliessend schrieb Fritz Meyer nur noch Tagebuch. 1964 starb er in Zürich, fünfzigjährig, an den Folgen seiner Alkoholsucht.

#Ich, Fremdsein, Liebe, Erinnerung