Joachim B. Schmidt: Tell, 2022

Ein Schuss ins Herz

Es gibt nicht viele Geschichten, die eine derartige Wucht entwickeln, wie «Wilhelm Tell». Für die einen ist er universeller Freiheitskämpfer, für andere Identifikationsfigur und Nationalheld der Schweiz. Der Dichter und Dramatiker Friedrich Schiller hat dem Tyrannenmörder ein literarisches Denkmal geschaffen und ein politisches Statement gesetzt, das seit über 200 Jahrhundert wirkt. Im Gefolge der 1968er-Jahre stürzte Max Frisch mit «Wilhelm Tell für die Schule» die überhöhte Figur vom Thron. Er erzählte den Stoff aus der Sicht Gesslers und stellte Tell und die Urner als fremdenfeindlich, borniert und selbstgerecht dar.

Nun wagt sich erneut ein Schriftsteller an den Mythos. Auch er holt den Urschweizer und Superhelden vom Sockel, macht ihn und seine Entourage zu empfindsamen Menschen. «Tell», kurz und bündig, nennt sich das neue Buch von Joachim B. Schmidt. Der Roman ist ein vielstimmiger Chor, eine Art Collage, in welcher der Autor zahlreiche Stimmen kunstvoll ineinander verwebt. In kurzen Kapiteln erzählen die Hauptprotagnisten die Geschehnisse im Urnerland aus ihrer persönlichen Perspektive und Betroffenheit – sei es hoch oben auf dem Berg während der Jagd, auf dem Tellhof, im Pfarrhaus, bei der Seeüberquerung, bei den Eindringlingen, den Habsburgern, oder auf dem Marktplatz, wo es zum Höhepunkt, dem schicksalhaften Apfelschuss, kommt.

Tell ist alles andere als ein selbstbewusster Freiheitskämpfer; vielmehr ist er ein grimmiger, introvertierte Bauer, der sich verantwortlich macht für den Tod seines Bruder Peter in den Bergen. Er lebt zusammen mit seiner Frau Hedwig, den drei Kindern und dem Grosi Marie auf dem Tellhof und sichert deren Überleben. Der an Grausamkeit kaum zu überbietende Habsburger Harras beschreibt die Urner folgendermassen: «Wie ich diese Bauernbrut hasse! Diese behaarten Fotzen ekeln mich an! Sie stinken nach Mist und Wurst, Gammelkäse und saurer Milch! Ein blutschänderisches Pack, das sich in kleinen fensterlosen Hütten verkriecht. Wie die Murmeltiere. Und sogar noch stolz drauf!». Der Clash der Kulturen ist vorgezeichnet, den der feinfühligen Gessler überfordert.

Schmidt hat einen raffinierten, kurzweiligen und tiefsinnigen Roman geschrieben. Er, der mit seiner Familie in Island lebt, hat sich von den nordischen Sagen, ihren starken Männern und Frauen inspirieren lassen. «Tell» ist bevölkert von solch selbstbewussten Persönlichkeiten mit all ihren Kanten, Sehnsüchten und Abgründen und nicht von überhöhten, schablonenhaften Figuren, die aufgrund eines dichterischen und ideologischen Plans handeln. Dies macht den kraftvoll geschriebenen «Tell» so zeitgenössisch, so berührend. Wir sehen uns in ihnen. 

Gerade dadurch wirkt der knorrige, bisweilen brutale Tell so menschlich, weil seine innere Zerrissenheit, die er in Stille und Wut ausdrückt, sukzessive ans Tageslicht kommt. Es sind die Anderen, die über ihn sprechen, die seine Geschichte erzählen. Je weniger er sagt, desto präsenter wird er. Erst ganz zum Schluss, in einem der letzten Kapitel, wendet Tell sich an die Lesenden, erzählt eine Episode und verschwindet dann für immer. Er lebt in der Überlieferung, die ein Schreiber seiner Tochter Lotta erzählt, und wacht hoch oben auf den Felsen. Hat es Tell gegeben? Ist er bloss ein Urner Geist? Schmidt erzählt eine ebenso spannende wie faszinierende Geschichte. 

Joachim B. Schmidt: Tell. Diogenes Verlag, 2022, 288 S., Fr. 31.-

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  • Lebensdaten: 1981 (Thusis, GR)
  • Lesetipps: «Kalmann» Diogenes Verlag, Zürich 2020. Die ersten drei Romane «In Küstennähe» (2013), «Am Tisch sitzt ein Soldat» (2014) und «Moosflüstern» (2017) sind im Landverlag erschienen.
  • Fussnoten: Schmidt lebt und arbeitet seit 2007 als Autor, Journalist und Reiseleiter auf der Vulkaninsel Island. Der humorvolle und geistreiche Krimi «Kalmann» mit seinem verschrobenen Ermittler wurde mit einem Werkbeitrag der Pro Helvetia ausgezeichnet . Schmidt lebt mit seiner isländischen Partnerin und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

    #Tradition, Identität, Heimat