Kaspar Wolfensberger: Die Brahmskommode, 2021

Musikalische Freundschaften

Voller Lebendigkeit kommt «Die Brahmskommode» von Kaspar Wolfensberger daher, spannend, witzig, voller freundschaftlichem Charme. Der Rückblick auf die wiederholten Zürcher Aufenthalte des Komponisten Johannes Brahms zwischen 1865 und 1895 ist keineswegs behäbig und verstaubt, vielmehr zeichnet der Autor lustvoll die Freundschaft eines Männerquartetts nach, das miteinander debattiert und musiziert, zecht und zetert. Die vier Herren könnten unterschiedlicher kaum sein, doch die Begeisterung und das Feuer zur Musik hält sie zusammen. Johannes Brahms (1833-1897) ist noch heute eine Berühmtheit, während seine Freunde in Vergessenheit gerieten, ihr Name vielleicht noch ein Strassenschild ziert: Theodor Billroth (1829-1894), Arzt, Chirurg, Naturforscher, Klinikprofessor und Laienmusiker. Friedrich Hegar (1841-1927), engagierter Chorleiter, erster Dirigent der Zürcher Tonhalle und Doyen des Musiklebens. Josef Viktor Widmann (1842-1911), Dichter, Schuldirektor, Feuilletonist und Förderer von Schriftstellern. 

Der Autor erzählt mitten aus dem Geschehen heraus. Man riecht  den Äther, den Prof. Dr. Billroth der Gebärenden verabreicht, um erstmals erfolgreich einen Notfall-Kaiserschnitt vor den Rängen der Ärzte und Studenten auszuführen. Sein Beharren auf Sauberkeit und Seife, um dem tödlichen Wundfieber zu trotzen, stösst vielerorts auf Kopfschütteln. Währenddessen bereitet der junge, unsichere, an sich zweifelnde Brahms mit Hegar sein erstes Zürcher Konzert vor. Der Applaus des Publikums brandet an das Ohr der Lesenden, auch die plätschernden Pausengespräche. 

Später ist Brahms unterwegs von seiner bescheidenen Unterkunft im Zürcher Bauerndorf Fluntern, steigt von dort in Gedanken und Melodien vertieft hinab ans Ufer des spiegelnden Zürichsees und blickt melancholisch in die Ferne. Da, plötzlich, hört er in seinem Innern die Musik, eine Melodie von tiefer Traurigkeit und Schönheit. Er summt, «hob die Arme, begann zu dirigieren, gab Pauken, Posaunen und Trompeten den Einsatz, holte die Bässe, Celli und Fagotte aus der Tiefe, liess Hörner erschallen, von oben herab Violinen, Flöten». 

Wolfensberger schildert intensiv, als ob er den milchgesichtigen Komponisten am Bäuschänzli hatte stehen und gestikulieren sehen. Im Fluntermer Häuschen arbeitet, feilt und notiert Brahms akribisch an der Komposition, bis er die beschriebenen Notenblätter voller Scheu Prof. Billroth aushändigt. Brahms beobachtet den Arzt unentwegt, wie er nach den ersten Seiten sprachlos aufblickt, tief Atem holt, sich wieder vertieft. Der Freund liest die abstrakten Noten und hört währenddessen die Musik, die Stimmen, summt im Innern mit, setzt mit einer Geste einen Akzent, dämpft mit der Hand das Orchester. «Es überwältigt mich», staunt Billroth ungläubig, «das ist unsäglich schön! Ein Meisterwerk.» Erst da überreicht ihm Brahms das Deckblatt der Partitur: «Ein Deutsches Requiem»

Den Sommer 1874 verbringt der Naturliebende Brahms im idyllischen, auf dem Turbenberg oberhalb von Rüschlikon liegenden Kurbad Alt-Nidelbad. Er komponiert, streift durch Wälder und Sümpfe, schwimmt im See, empfängt seine Freunde, musiziert und geniesst das unverkrampfte Dasein. Während er durch die Gegend wandert, komponiert er im Takt der Schritte weiter und verirrt sich auch mal im Nebel. Heraus findet er den Weg und die Abzweigungen erst, als er das Musikstück innerlich rückwärts spielt und sich so an die Wegstrecke erinnert. 

Als gewitzter und informierter Erzähler nimmt der Autor Wolfenberger die Lesenden mit auf Spaziergänge durch die historische Kulisse Alt-Zürichs, vorbei an verschwundenen Örtlichkeiten wie dem Chratz-Quartier beim Bürkliplatz, über die im Bau befindliche Bahnhofstrasse, entlang der neuen und der alten Tonhalle. Wir sitzen im Raddampfer und mit dem Dichter Gottfried Keller am Tisch, lesen die Briefe an die geliebte Pianistin und Komponistenwitwe Clara Schumann, lauschen Gesprächen, sehen Brahms erröten vor der Musikerin Elisabeth von Herzogenberg und sinnieren mit ihm über nahe und ferne Musen. 

Generationen später kommt das Haus in Alt-Nidelbad in den Besitz von Wolfensbergers Familie und ihm fällt die verstaubte, sogenannte «Brahms-Kommode» zu. Ein Möbel voller Fächer und Schubladen, in denen der Komponist Souvenirs an jene Sommertage und -nächte zurückgelassen hatte. Mit allen Sinnen nimmt der Autor die zurückgelassenen Objekte in die Hand, tastet sie ab und komponiert mit ihnen und seinen Kindheitserinnerungen die historische Romanhandlung. Gekonnt verflicht er sie in leuchtenden Farben mit der realen Geschichte des Brahmshauses in Rüschlikon, dessen Bewohnerinnen, Gästen und den Lebenswegen seiner Freunde. «Die Brahmskommode» ist ein lebendig geschriebener, historischer Roman voller Esprit, er erzählt herzerwärmend ein Stück Zürcher Musik-, Medizin- und Kulturgeschichte. Aus den Seiten dringen Gesang, Gelächter, Gläserklirren und Gespräche, zwischen ihnen hängt der Sommerduft.

Kaspar Wolfensberger: Die Brahmskommode. Bilgerverlag. S. 505, um Fr. 39.-

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Siehe auch Kaspar Wolfensberger: Gommer Frühling, bebildert auf Instagram

  • Lebensdaten: 1942 (Zürich)
  • Lesetipps: Die Krimitrilogie «Gommer Sommer»,2016; «Gommer  Winter», 2017; «Gommer Herbst», 2019.
  • Fussnoten: Kaspar Wolfensberger ist Arzt, Psychiater und Psychotherapeut in freier Praxis. Er lebt und schreibt in Zürich und in seiner zweiten Heimat, dem Goms.

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