Leta Semadeni: In meinem Leben als Fuchs, 2010

«das Ich ins Farn fiel»

Leta Semadenis Muttersprache ist das Rätoromanische, genauer das Unterengadiner Vallader. Ihre Liebe galt aber schon früh der deutschen Literatur, wie die Dichterin erklärt. So schreibt sie ihre Gedichte auf Deutsch und Romanisch, oft wisse sie gar nicht mehr, in welcher Sprache sie diese ursprünglich dachte und in welche sie sie dann übersetzte. Ihre Gedichte erscheinen im Churer Verlag Chesa Editura Rumantscha denn auch zweisprachig, was die Lektüre besonders reizvoll macht. Wer die Gedichte in beiden Sprachen liest, ahnt, auch wenn er des Romanischen nicht mächtig ist, dass die beiden Fassungen nicht einfach Original und Übertragung sind, sondern Kompositionen in ihrer je eigenen Sprache. So sind klangliche Wirkungen nie in beiden Sprachen gleich und die parallelen Fassungen ergänzen sich deshalb in fruchtbarer Art und Weise.

In der Lyrik von Leta Semadeni kommen häufig Tiere vor. Wie Versatzstücke klassischer Naturgedichte wandern sie durch die Gedichte. Sie sprechen unsere Sprache («Berauscht spricht das Pferd meine Sprache») und sie wohnen in unseren Häusern («In meinem Hause wohnen drei Löwen»). Tiere sind Erscheinungen, in denen sich der Mensch erkennt. Im Gedicht «In meinem Leben als Fuchs», welchem der Band seinen Titel verdankt, blickt das lyrische Ich zurück auf sein Leben als Fuchs und erinnert sich, wie einst «die Pfote die Erde berührte» oder «das Ich ins Farn fiel». Auch in der Angst der Kuh, ihrem Heimweh nach dem Leben ohne Glocke in der freien Natur, wird die Sehnsucht des Menschen nach dem kreatürlichen Dasein jenseits jeglicher rationaler Ordnung thematisiert. An anderen Stellen werden aber auch Idyllen gebrochen, so wenn «die Wolke im Dorf stehen bleibt und ein Mann geduldig auf seinen Albtraum wartet». Die Natur verändert sich ständig und so ist auch der Perspektivenwechsel ein roter Faden in Semadenis Poesie. Da läuft ein Pferd durchs Auge und der Mensch verschmilzt mit Schwein, Kuh, Pferd oder Ziege. Es sind solche Umkehrungen, die den besonderen Charme dieser Lyrik ausmachen.

Faszinierend ist auch die reduzierte Einfachheit und schroffe Klarheit der Sprache, mit welcher Leta Semadeni ihre Welten erschafft. Dabei wird nichts erklärt. Diese Poesie sperrt sich gegen das reine Verstehen. Wir folgen der Anweisung der Lyrikerin, die sie uns in einem ihrer Gedichte erteilt: «Spring / ohne Netz / auf die nächste / Zeile.» Ein beglückendes Buch.

aus: 99 beste Schweizer Bücher

  • Lebensdaten: Lebensdaten: 1944 (Scuol)
  • Originaltitel: «In mia vita da vuolp»
  • Lesetipps: «Amur, grosser Fluss» (2022), «Tamangur» (2005); «Küchengedichte» (2006)
  • Fussnoten: Leta Semadeni ist in Scuol aufgewachsen, wo sie von Tieren umgeben war und auch selbst Kühe auf die Alp trieb. Sie arbeitete als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete und wurden mit verschiedenen Preisen geehrt. 2023 ist sie Preisträgerin des höchsten Schweizer  Literaturpreises, des «Grand Prix Literatur».
    #Tiere #Natur #Erinnerung #Freiheit