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Meinrad Inglin: Schweizerspiegel, 1938
Filmreifes Familienepos
Die Welt scheint heute aus den Fugen geraten. Die weltpolitischen Positionen sind bezogen, doch wohin führt der kriegerische Machtpoker die Menschen? Was sind die Auswirkungen der Weltlage auf unser gesellschaftliches Umfeld? Fragen wie diese stellte sich der Schriftsteller Meinrad Inglin bereits im historischen Spannungsfeld vor fast 100 Jahren und schrieb den «Schweizerspiegel».
Der Erste Weltkrieg war für Europa eine schmerzhafte Zäsur: Abermillionen von Toten in den Schützengräben, implodierende Reiche und die Geburt neuer Ideologien, die weitere Kriege und Genozide hervorbrachten. Die Schweiz blieb von dieser Katastrophe weitgehend verschont, gleichwohl kam es zu Verwerfungen in der Gesellschaft. Mehr noch: Die Schweiz drohte mit dem Ausbruch des Weltkriegs auseinanderzubrechen. Meinrad Inglin beleuchtet in seinem »Schweizerspiegel« die Spannungen in Gesellschaft, Politik und Militär. In einem eindrücklichen Familienepos und Geschichtsroman werden wir Zeugen des Untergangs überlieferter Werte und Traditionen.
Den Rahmen bildet die weit verzweigte grossbürgerliche Zürcher Familie Ammann, welche die verschiedenen Herkünfte, Schichten und Landesteile repräsentiert. Das Oberhaupt, Alfred Ammann, befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Der liberale Nationalrat und Brigadekommandant wohnt im Herbst 1912 dem grossen Manöver der Schweiz Armee bei, das vom Deutschen Kaiser höchstpersönlich besucht wird. Die Welt scheint in Ordnung, doch mit dem Attentat von Sarajewo und dem Ausbruch des Weltkriegs gerät auch Ammanns Welt aus den Fugen. Sein ältester Sohn Severin arbeitet bei der liberalen Zeitung »Ostschweizer«, die zusehends nationalkonservative und deutschfreundliche Züge annimmt. Severins Haltung führt zum Zerwürfnis mit seinem Westschweizer Onkel Gaston Junod, der Sympathien für die Franzosen hegt. Der zweite Sohn Paul, ein Intellektueller, arbeitet als Kulturjournalist und veröffentlicht propagandistische Artikel in sozialdemokratischen Zeitungen. Der jüngste Sohn Fred absolviert seinen Militärdienst an der Grenze. Gertrud, die Tochter Ammanns, ist mit einem strammen Offizier verheiratet, hat zwei Kinder, und lässt sich in einem komplizierten Verfahren und entgegen aller Konventionen scheiden.
Die Geschichte der Familie Ammann zeigt, wie die Fundamente der Schweiz in nur sechs Jahren zu schwanken beginnen. Inglin kombiniert im »Schweizerspiegel« gekonnt und anschaulich fiktionale Szenen mit dokumentarischem Erzählen. So befinden wir uns mitten in der Nationalratsdebatte, als der deutschfreundliche Ulrich Wille trotz massiver Proteste der Westschweizer zum General gewählt wird, oder während des Generalstreiks 1918 auf der Strasse.
Der »Schweizerspiegel« ist leider ein verkannter und unterschätzter Roman, weil er 1938 mitten in der Geistigen Landesverteidigung erschien und diesen Beigeschmack vor allem nach 1968 nie mehr ganz abzustreifen vermochte. Dabei ist der Roman ein grossartiges Sittengemälde, das anhand der Familie Ammann das Ende der traditionellen Schweiz vor 100 Jahren kunstvoll und unvergesslich beschreibt. Und wie es zwischen den Familienmitgliedern knirscht, tobt und intrigiert, wäre Stoff für eine Schweizer Netflix Serie.
Diverse Ausgaben, zum Beispiel
Meinrad Inglin: Schweizerspiegel. Roman. Limmat Verlag, 2014, gesammelte Werke 5, Herausgeber Georg Schoeck, Nachwort von Beatrice von Matt. 904 S., Leinen
Die vorliegende Ausgabe beruht auf dem Text der Erstausgabe (Staackmann Verlag, Leipzig 1938), August 2014. etwa SFr. 49.–
- Lebensdaten: *1893 (Schwyz) – 1971 (Schwyz)
- Lesetipps:
«Die Welt in Ingoldau» (1922)
«Grand Hotel Excelsoir» (1928)
«Der schwarze Tanner» (1947) - Fussnoten: Meinrad Inglin wird 1948 Ehrendoktor der Universität Zürich und gewinnt den grossen Schillerpreis. 1951 wird er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und erhält 1965 den Gottfried-Keller-Preis. Seine Erzählung «Der schwarze Tanner» wird 1985 von Xavier Koller verfilmt.
# Familie, Geschichte, Macht, Ausbruch, Krieg, Emanzipation