Michel Layaz: Louis Soutter, sehr wahrscheinlich, 2016

Atemlos jagen die Worte übers Papier. Ob eine Windboe oder das Leben die schwarzen Silhouetten über das Titelbild von Michel Layaz’ «Louis Soutter, sehr wahrscheinlich» taumeln lassen? Der Westschweizer Autor hat sich mit Leben und Werk von Louis Soutter (1871-1942) auseinandergesetzt und einen fulminanten Roman geschrieben. Aus gutbürgerlichem Haus in Morges stammend, überquert der hochtalentierte Soutter auf der Suche nach seinem Ich den Atlantik, um 1897 als virtuoser Geiger und ausgebildeter Maler im amerikanischen Colorado Springs (USA) zu landen. Die Position als Direktor der Kunstschule wie auch als grossbürgerlicher Gatte behagt ihm nur kurz. Von Zwängen getrieben, kehrt er beidem den Rücken, irrt am Genfersee während Jahren durch diverse Orchester und eininstabiles Leben, bis er mit 52 in ein Altershospiz eingewiesen wird.  

Auf der Hügelkette des Waadtländer Jura im Dorf Ballaigues setzt Layaz zum zweiten Teil seines Romans an. Hier verbringt Soutter unter Vormundschaft seine letzten zwei Lebensjahrzehnte in steter Spannung zwischen den disziplinarischen Vorgaben des Aslys und seinem Freiheitsdrang. Diese Zerrissenheit zieht sich durch Soutters Biografie: nie gelingt es ihm, die Kluft zwischen seiner künstlerischen und lebemännischen Sensibilität  und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität zu überbrücken. Konstanten bleiben der virtuos geführte Bogen und das Geigenspiel, auch unterwegs über die Höhen des heimischen «Arc Lémanique». Jeder Witterung ausgesetzt jagt Soutters Schritt ihn, den Gentleman, kilometerweit auf und an, durch Wald, Weide und entlang von Flussläufen –  um urplötzlich innezuhalten. Zum Schauen? Zum Lauschen? Zum Sinnieren? Zurück im Hospiz, im Verborgenen zuerst, zurren und zucken, schlängeln und mäandern simple Linien über die Seiten von Schreibheften, füllen sie, dicht auf dicht, mit stetem Strich, kontrastieren im Weiss des Papiers ein Motiv: Blüten, Früchte, antike Szenen, Architektur, ekstatische Leiber – jedes Blatt (meist) säuberlich mit Titel, aber keiner Unterschrift versehen. Sie stapeln sich zu Hunderten, ja mehr. Es sind flüchtende Bruchstücke seiner Gedankengänge.

Er, der Gutgebildete, stösst bei Betrachtern auf Unverständnis, löst Unbehagen aus. Sein sensibler, expressiver Strich geht rastlos direkt unter die Haut, ob geschwungen, gezackt, schraffiert oder kariert. Soutter sucht Kontakt, Austausch und Anerkennung. Doch wenige nur erkennen seine Kunst als solche, ausser sein Cousin, der Architekt Le Corbusier, der ihm zu helfen sucht und zum Weitermachen ermutigt. Die Schaffenskraft ist ungebrochen, doch die arthritischen Finger hindern in den letzten Lebensjahren zunehmend das Führen des Stiftes. Aus dieser Not tunkt der Künstler die Finger direkt in Farbe und aufs Papier: In der Fingermalerei, wie sie das Buchcover zieren und heute in Museen hängen, gipfelt Soutters absolut ungefilterte Expressivität. Michel Layaz nähert sich in diesem Buch Louis Soutter, ohne ihn einzuengen. Er zeichnet – teils atemlos – mit Worten seine Person und untermalt das Schwarz und Weiss der Werke, voller Respekt und in poetischer Unmittelbarkeit.

  • Lebensdaten: Lebensdaten: 1963 (Fribourg)
  • Originaltitel: «Louis Soutter, probablement»
  • Lesetipps: «Die fröhliche Moritat von der Bleibe» schildert eine Gegenwelt von scheinbar Geisteskranken, in «Auf dem Laufband» zeichnet Layaz mit sprachlicher Präzision ein schafzüngiges Portrait (beide erschienen in kleinen Bieler Verlag Die Brotsuppe). Weitere Bücher Layaz›, so auch «Sans Silke», sind nur auf französisch erhältlich.
  • Fussnoten: Das Buch, dessen sensibler Titel in der deutschen Übersetzung beibehalten wurde, erhielt 2017 den Schweizer Literaturpreis.
    Michel Thévoz, der Gründungsdirektor der «Collection de l’Art Brut» in Lausanne, ermöglichte mit der Aufarbeitung und Ausstellung von Soutters Werk seine künstlerische Anerkennung. Michel Layaz bezieht viel Wissen aus Thévoz’ Buch «Louis Soutter ou l’écriture du désir».

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