Nicolas Verdan: Saga Le Corbusier, 2009

Ein letzter Schmerz

Das schwarz-weisse Foto auf dem Titelbild von «Saga Le Corbusier» wirkt durch die Grobkörnigkeit wie ein Zeitfilter: Weich verwischt blickt die Betrachterin auf den Architekten Le Corbusier, dessen Fokus hinter den spiegelnden Brillengläsern der Arbeit vor ihm gilt. Südliches Sonnenlicht fällt in den Raum. Wir sind in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur, wo der weltbekannte Schweizer in den Sommermonaten ein einfaches Cabanon bewohnte. Von dort macht sich der 77-Jährige am 27. August 1965 morgens wie üblich auf zum Schwimmen im Meer. Wenig später wird der leblose treibende Körper in Ufernähe gefunden

Der Schriftsteller Nicolas Verdan, der unweit von Le Corbusiers «Villa Le Lac» bei Vevey wohnt, nähert sich dem Architekten in einem faszinierenden Zwiegespräch. Keine massstabgetreue Bauzeichnung leitet ihn an. Vielmehr scheint er den biografischen Grundriss des aus La Chaux-de-Fonds stammenden Architekten, Stadtplaner, Maler, Designer, Dichter und Theoretikers durch ein Kaleidoskop zu betrachten und dieses langsam zu drehen. Die Sprunghaftigkeit der ersten Seiten irritiert die Lesenden, bis sie realisieren, dass die kursiven, über das ganze Buch verteilten Einschübe Le Corbusiers letzten Schwumm schildern, während vor seinem inneren Auge Lebenserinnerungen vorbeiziehen. Es beginnt mit: «Sie halten einen Kiesel in der Hand. Der Kieselstein – einer der schönsten Gegenstände überhaupt, vom Meer angespült, vollkommen,…»


Wer den 1887 im Schweizer Jura geborenen Charles Édouard Jeanneret mit monströsen Betonbauten und chromglänzenden, schwarzen Lederkuben gleichsetzt, dem missfällt der Einstieg mit dem poetischen Kiesel. Doch der ambitionierte Schweizer Architekt und Designer sammelte Strandgut – Muscheln, Steine, Äste, Kiesel – und nannte sie «Objets à réaction poétique». In diesen Objekten, ihren Linien, Kurven und ihrem Volumen suchte er Poesie, die er mit suchendem Strich in Zeichnungen festhielt und in seine architektonische Formensprache einfliessen liess. Denn Le Corbusier, wie er sich seit seiner ersten Zeit in Paris nannte, war genauso Maler wie Architekt: Vormittags widmete er sich der Malerei, nachmittags der Architektur, abends hielt er oft Theorien oder Texte in seiner eilenden Handschrift auf Papier fest.

«Sie drehen sich auf den Rücken, schliessen die Augen, während das Wasser in Ihre Ohren dringt. Der Klang des Meers (…) in dieser überfülle an Licht.»

Le Corbusier war eine dieser getriebenen Persönlichkeiten, die mit einer Handvoll Stunden Schlaf auskam und sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts voller Sendungsbewusstsein für eine architektonische Modernisierung und visionäre Stadtentwicklung einsetzte. Seit 2016 steht sein architektonisches Werk auf der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste. Aus dem Jura zog es den jungen Provinzler in die Grossstadt Paris, ans Mittelmeer, nach Marseille, Tanger, über den Atlantik nach New York, Chicago sowie nach Chandigarh auf dem indischen Subkontinent. In Le Corbusiers Idee der «Unitée d’Habitation» aus den 1920er Jahren, einer Art standardisierter Massenwohnbau, sah der Architekt die Lösung für die Wohnungsnot der Nachkriegsjahre. Mit Serienproduktion wollte er eine optimale Wirtschaftlichkeit erreichen. Als Mass diente ihm die Grösse eines Menschen von 183 cm, woraus er ein Proportionenschema, den «Modulor», entwickelte, um mit diesem die Architektur durch den menschlichen Körper zu prägen. 

Die intensive Auseinandersetzung mit Leben und Werk Le Corbusiers sowie wahre Begebenheiten bilden das Fundament des Romans von Nicolas Verdan. Doch wie wollte der Westschweizer Autor diese Fakten und die konträre Person, die sich nur für Fortschritt begeisterte und nicht um die Politik scherte, in eine Romanform bringen? Er wählte unerwartet die Gesprächsform, grenzt sich ab durch die höfliche Anrede mit «Sie». Die Beobachterperspektive distanziert, begleitet die Ereignisse. Mit seiner packenden Sprache gelingt Verdan das Kunststück, den zwiespältigen Menschen zu erfassen. In knappen Worten überbrückt er Zeitsprünge, Rückblenden, Sinneseindrücke, Fakten und Gefühle, um die kaleidoskopischen Splitter in ein literarisches Ganzes zu einen und endet:
«…Wasser, doch zuviel, um zu schreien, die Farben verschwimmen; (…) Luft. Ein letzter Schmerz, der vergeht.»



Nicolas Verdan: Saga Le Corbusier. Roman aus dem Französischen von Bernadette Fülscher. Éditions Parallèles, 2020, 160 S., Fr. 24.-
(Erstausgabe: Saga Le Corbusier, Bernard Campiche Editeur, 2009)

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  • Lebensdaten: 1971 (Vevey, VD)
  • Originaltitel: Saga. Le Corbusier
  • Lesetipps: «Doktor Hirschfelds Patient» (2012), «Die Coachin» (2018)
  • Fussnoten: Im Mai 2022 wird die Übersetzung von «Le Patient du docteur Hirschfeld» im Verlag Die Brotsuppe herauskommen, nachdem der Roman 2012 mit dem Publikumspreis der RTS sowie dem Schillerpreis ausgezeichnet worden war. »Doktor Hirschfelds Patient« handelt von der Suche eines fiktiven Nazis nach der Patientenliste des Arztes ­Magnus Hirschfeld, der 1919 in Berlin das Institut für ­Sexualwissenschaft gründete. Ein historisch wie gesellschaftlich höchst interessanter (Kriminal-)Roman.

    #Leben, Portrait, Architektur