Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer, 1999

Cherubin Hammer und Cherubin Hammer

Cherubin Hammer ist ein unsympathischer, pedantischer Mensch. Jeden Tag trägt er einen Stein auf den Berg, «365 Kiesel Jahr für Jahr, in einem Schaltjahr 366». Äusserlich ist er still und angepasst. Beamter, Einfamilienhaus, Frau und Sohn.

Insgeheim aber schaut er, berauscht von seinem Bildungsdünkel, auf alle anderen herab und träumt von einem grossen Werk im Stil Adalbert Stifters, dessen «Witiko» er schon als Jugendlicher durchdrungen zu haben glaubte. Er zieht sich herrisch in sein Arbeitszimmer zurück und «schreibt» dort – unzählige leere Wachstuchhefte, grossspurig betitelt mit «Die Tagebücher» oder «Spuren der Menschheit – eine Autobiographie».

Warum man die Geschichte dieses «blöden Siechs», wie ihn Peter Bichsel selbst nannte, überhaupt lesen soll, fragt man sich nie – und das ist das Grossartige an diesem kleinen Buch. Bichsel legt in seine einfachen, präzise gemeisselten Sätze so viel Mitgefühl, dass Hammers Geschichte zu einer Mediation über ungelebtes Leben wird. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir es mit einem buchstäblich doppelbödigen Roman zu tun haben: Cherubin Hammer ist eigentlich ein anderer. Und dieser kommt nur in den Fussnoten vor. Der Hammer aus den Fussnoten verkörpert die lebenslustige Seite des gequälten Sisyphos mit seinen Kieseln. Ein «richtiger Kerl» ist er, versteht sich aufs Saufen, schwingt grosse Reden, dreht krumme Geschäfte, ist «dem Teufel vom Karren gefallen». Er lebt absolut in der Gegenwart, jede Sekunde ist grosses Kino angesagt. Auch er ist in seiner Selbstverschwendung eine tragische Figur.

Immer wieder betont Peter Bichsel in Interviews, seine wahre Leidenschaft sei nicht das Schreiben, sondern das Lesen. Seine eigenen Leserinnen und Leser nimmt er so ernst, dass er ihnen in «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer» die Hauptaufgabe überlässt, nämlich den Graben zwischen Text und Fussnoten immer wieder neu zu überbrücken und sich dabei zu fragen, wo man mit der eigenen Biographie, mit eigenen unerfüllten Träumen und Wünschen, steht. So verkehrt sich das bitter ungelebte, beziehungsweise im Dauerfeuerwerk verpuffte Leben der Hauptfiguren für die Leserin in zärtliche Melancholie und ästhetische Lebendigkeit.

Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer, Erzählung, Suhrkamp Verlag (1999)  S. 109,  etwa Fr. 15.- oder Taschenbuch

Aus: 99 beste Schweizer Bücher

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  • Lebensdaten: *1935 (Luzern)
  • Lesetipps: «Eigentlich wollte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964
    «Kindergeschichten» (1969)
    «Kolumnen, Kolumnen» (2005),
    «Die schöne Schwester Langeweile»( 2023) Insel Verlag, 106 S., etwa Fr. 19.-
  • Fussnoten: Peter Bichsel versteht sich dezidiert als politischer Autor. Er war Berater und Redenschreiber für Bundesrat Willi Ritschard, äusserte sich in seinen Kolumnen zum Tagesgeschehen und wurde zur moralischen Instanz in der Schweiz. «Darf ich mich langweilen – angesichts des Weltgeschehens?», soll sich der Schriftsteller Peter Bichsel einmal, fast provozierend, gefragt haben. Entsprechend schreibt er.
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