POSTKARTEN BUCHTIPP: Ein Leben als Bruder

Es gab sie nur zu zweit. Sie teilten alles, was man teilen kann. Und sogar das, was man normalerweise nicht zu teilen pflegt, die Geliebte zum Beispiel: Jules und Edmond de Goncourt führten ihr Leben gewissermassen im Duett. Auch ihre Romane schrieben sie zu zweit. Und vor allem die Tagebücher: Rund siebentausend Seiten, aus denen sich ein Panorama der Pariser Gesellschaft zwischen 1850 und 1890 ergibt. Die beiden waren scharfe Beobachter. Und völlig blind für das, was sich unmittelbar vor ihren Augen abspielte: das Schicksal ihrer Haushälterin Rose. Jules und Edmond meinten sie zu kennen, und merkten nichts von ihrem Leiden. Nichts davon, dass sie alkoholsüchtig war, kriminell und ungewollt schwanger wurde und dem Leben mehr und mehr entglitt. Alain Claude Sulzer hat das «Doppelleben» des eigenartigen Brüderpaars zu einem atmosphärisch dichten Roman verflochten. Und stellt die Frage, wie es zusammenpasst, dass die hellsichtigsten Beobachter der Gesellschaft einen Menschen ihrer nächsten Umgebung behandeln wie ein Möbelstück, das sie gar nicht mehr wahrnehmen, weil es seit Jahren am gleichen Ort steht.

Alain Claude Sulzer: Doppelleben. Roman. Verlag Galiani, Berlin 2022. 304 S., Fr. 33.90.

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