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Ein Buch wie ein dunkler Traum

Bei Vollmond sind im Haus nachts Stimmen zu hören. Dann drängen sich die jungen Frauen ans Fenster, um den Mond zu sehen. In den Wänden hört man die Ratten rascheln, und an manchen Tagen dringt von den Füssen her Gepolter herauf. Es heisst, in den Untergeschossen hausten die alten Frauen, an die sich niemand mehr erinnern kann. Und Cléo muss jeden Abend eine Portion Kaliumbromid schlucken, gegen die Krämpfe, die sie immer wieder durchschütteln.

Es ist ein düsteres Szenario, das Alexander Kamber in seinem Roman «Nachtblaue Blumen» entfaltet. Paris um 1890: Der leitende Arzt in der Nervenheilanstalt Salpétrière widmet sich einer rätselhaften Krankheit. Er veranstaltet mit seinen Patientinnen Vorführungen vor Fachpublikum, um zu beweisen, wie die Hysterie sich äussert. Die Krankheit, von der manche sagen, es gebe sie gar nicht.

Unter den Patientinnen des Doktors ist eine junge Frau. Cléos Freundin. Früher war sie Tänzerin in Cabaret «Le Voltage». Jetzt ist sie Musterpatientin, wird vom Doktor gelobt. Alles, was sie erlebt, notiert sie in ein Notizbuch. Damit sie sich genau erinnert. Was wir lesen, sind ihre Aufzeichnungen, die sich im Nachlass des Neurologen Charcot in der Sorbonne erhalten haben. Sie weiss nicht, was mit ihr geschieht. Genauso wenig wie die anderen jungen Frauen es wissen.

«Im Grunde leidest du an einem tiefen Schmerz», sagt der Doktor zu ihr. Aber was heisst das? Der Doktor sagt, man könne den Schmerz behandeln, aber weshalb wird die Krankheit dann bei allen, die in der Klinik sind, immer nur schlimmer? «Im Grunde fehlt mir nichts», schreibt die Patientin, die weiss, dass aus Salpétrière kein Weg zurück in die Welt führt. Manchmal tut sie Dinge, an die sie sich nicht erinnern kann. Vielleicht hat sie sie gar nicht getan. Aber wer weiss das schon? Und vor allem: Wen interessiert es? «Nachtblaue Blumen» ist ein Kabinettstück präziser Beobachtung. Ein Buch wie ein dunkler Traum, der ab und zu durchzuckt wird von ironischen Blitzen.

Alexander Kamber: Nachtblaue Blumen. Roman. Limmat-Verlag, Zürich 2024. 128 S., Fr. 30.-

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