POSTKARTEN BUCHTIPP: Die Reise der Sehnsucht von Chur nach Istanbul

Kammermusik ist ein Zusammenspiel von Stimmen, die einander suchen, ergänzen und antreiben. Die Melodien erschaffen Landschaften, eine innere und äussere Welt, in welche die Zuhörerin, der Zuhörer eintaucht und sich verführen lässt. Eine solche vielstimmige literarische Reise unternimmt Angelika Overath mit «Unschärfen der Liebe».

Der Roman, der für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert wurde, beschreibt die Reisen dreier Menschen, die bereits in Overaths «Ein Winter in Istanbul» (2018) auftauchen. Die Hauptstimme gehört Baran, der in Chur den Zug besteigt und während fast zweier Tage nach Istanbul fährt. Dort erwartet ihn sein Partner Cla, der in der türkischen Metropole lebt und forscht. In der Schweiz zurückgelassen hat Baran die Bündnerin Alva und ihre Tochter Florinda, deren Vater Cla ist. 

Der Freigeist Baran, der sich als Kellner, Taxifahrer und Übersetzer durchs Leben schlägt, beobachtet auf seiner Reise die Passagiere sowie die vorbeiziehenden Ortschaften und Landschaften. Dabei sinniert er über die Gegenwart und die Vergangenheit, dringt in die Geschichte des Alpenraums und des Balkans ein, lässt Heilige, Herrscher und Kriegstreiber auftreten, welche die geographischen und historischen Räume, die er mit dem Zug durchfährt, geprägt haben. Und immer wieder kehren seine Gedanken zurück zu seiner momentanen Lebenssituation und zur ungewissen Zukunft. Auf der einen Seite ist er Cla in der Schweiz nahe, sehr nahe gekommen, auf der anderen ist er überzeugt, dass sich Cla ihm entzieht und neue Abenteuer sucht. 

«Unschärfen der Liebe» ist ein kammermusikalischer Roman, in welchem Angelika Overath die Stimmen und Geschichten mit wunderbaren poetischen Beschreibungen, Andeutungen und Auslassungen verwebt. Aus den Lebensmelodien des Jetzt und Gestern entsteht grossartige literarische Musik.

Angelika Overath: «Unschärfen der Liebe». Luchterhand Verlag. 224 S., ca. Fr. 30.

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