POSTKARTEN BUCHTIPP: Der Mann auf dem weissen Velo

Der Mann auf dem weissen Velo

Es war weiss: das Velo, mit dem Mario Comensoli Tag für Tag durchs Quartier fuhr. Zumindest habe ich es so in Erinnerung. Ich war ein Teenager, lebte in Zürich Hottingen, und der glatzköpfige Typ auf dem Velo war eine der Gestalten, die zum Inventar gehörten. Er fuhr zügig, man sah, dass ihm das Velofahren Spass machte. Man kannte ihn. Dass er Comensoli hiess, hatte mir mein Vater gesagt, dass er Maler war, auch. Aber ich hatte noch nie ein Bild von ihm gesehen, und ich weiss noch, dass ich mich manchmal fragte, was das eigentlich hiess: Maler sein. Maler hatte es früher gegeben. Vor langer Zeit. Sie hatten Bilder gemalt, die man in den Museen sehen konnte. Aber dass es heute noch Maler gab, erstaunte mich irgendwie. Konnte man Maler sein, so wie man Prokurist, Ärztin oder Bäcker war? Wahrscheinlich nicht, aber warum?

Anita Siegfrieds Buch über Mario Comensoli ist eine Biografie des 1993 verstorbenen Zürcher Künstlers. Aber es ist viel mehr als das: eine romanhafte Recherche. In zwanzig Kapiteln folgt Siegfried einem Künstler, dessen Lebensspuren sich von der Toscana über das Tessin nach Zürich, nach Paris und wieder nach Zürich ziehen. Eines Malers, der sich selbst mehr als einmal neu erfunden hatte, bevor er seinen Stil fand und die Welt abbildete, die er täglich vor Augen hatte, im Zürcher Arbeiterquartier, wo sein Atelier war. Mario Comensoli malte die Secondos, die Jugendlichen, die ihren Ort in der Welt suchen, die Punks, die Skins, die Drogensüchtigen, die alles verloren hatten, die Prostituierten, die gefallenen Engel der Grossstädte. Anita Siegfried erzählt dicht, aufgrund umfangreicher Recherchen, und mit einem Drive, der an den manchmal rohen Duktus von Comensolis Bildern erinnert. Und zeigt, dass sich Comensoli auf moderne Weise den grossen Themen, die die Maler seit Jahrhunderten beschäftigen: Tod, Liebe, Himmel, Hölle.

Anita Siegfried: Die Prinzen der urbanen Wüste. Bilgerverlag. 224 S., etwa Fr. 36.-.

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