POSTKARTEN BUCHTIPP: Anrennen gegen eine Mauer

Anrennen gegen eine Mauer

Es war ein lauter Auftritt mit unmissverständlichen Worten und einer Anklage: «Ich gebe auf. Die Staaten des Sicherheitsrates wollen keine Gerechtigkeit.» Carla Del Ponte, unterwegs im Namen des Rechts und nicht der Politik, suchte im Sommer 2017 die internationale Bühne am Locarno Filmfestival, um ihren Rücktritt als UNO-Sonderberichterstatterin in Syrien bekanntzugeben. Ein medial viel beachteter Coup, der dem Charakter, der Unbeugsamkeit und Eigenwilligkeit der Tessinerin entsprach. Fünf Jahre lang hatte sie zusammen mit ihren Kommissionsmitgliedern Beweise gesammelt, Berichte verfasst und lobbyiert, um die Kriegsverbrecher und Drahtzieher vor ein internationales Kriegsverbrechertribunal zu stellen. Ihr Fazit: «Wir haben überhaupt keinen Erfolg. Seit fünf Jahren rennen wir gegen Mauern an.»

Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin der Internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien in Den Haag und Schweizer Botschafterin für Argentinien und Paraguay in Buenos Aires, hat ihre Frustration in einem Buch verewigt. Sie musste alles rauslassen, «sonst hätte es mich erdrückt». 

«Im Namen der Opfer» ist vor fünf Jahren erschienen und hat leider nichts an Aktualität eingebüsst, gerade auch vor dem aktuellen und verstörenden Konflikt im Nahen Osten mit dem Terroranschlag und den Raketenangriffen der Hamas auf Israel und der israelischen Gegenangriffe auf den Gazastreifen. In bewaffneten Konflikten gehört die Zivilbevölkerung immer zu den ersten Opfern. Sie muss unsägliches Leid und Grausamkeit über sich ergehen lassen und erfährt nur selten Gerechtigkeit.

Carla del Ponte stellt sich auch in Syrien und Irak auf die Seite der Opfer. Sie besucht Flüchtlingslager und Spitäler, bereist Anrainerstaaten, spricht mit Kindern, Frauen und Männer, die vertrieben, misshandelt und gefoltert wurden. Sie erstellt Listen mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folterungen und Tötungen. Sie will die Drahtzieher und Urheber vor ein internationales Gericht stellen. Doch der UNO-Sicherheitsrat kann und will sich nicht durchsetzen, scheitert nicht zuletzt auch am Veto Russlands.

Das engagierte, gut lesbare Buch del Pontes ist vom anfänglichen Idealismus und Gerechtigkeitssinn durchdrungen. Die erfahrene und unbeugsame ehemalige Schweizer Bundesanwältin und internationale Chefanklägerin zählt und hofft auf ihre Erfahrung und ihr Renommée. Sie beschreibt nüchtern, dafür umso eindringlicher die Verbrechen der IS-Kämpfer und der Drahtzieher – schwer verdaubare Beschreibungen. Die Berichte, die jeweils mit der Empfehlung an die «Kriegsherren» enden, «die Menschenrechtsverstösse und Kriegsverbrechen per sofort einzustellen», erweisen sich als «zahnlose Papiertiger». Carla de Ponte und mit ihr die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern scheitern an der Ohnmacht und am Zynismus der internationalen Staatengemeinschaft und laut der Autorin der UNO-Welt. 

«Im Namen der Opfer» ist zum einen ein Monument der Ohnmacht und des Scheiterns, eine Abrechnung mit Machthabern und Amtsträgern. Sie spricht auch Klartext über ihr kaltes Verhältnis zur ehemaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und ihren Förderer in Bundesbern, Christoph Blocher. Auf der anderen Seite gibt das Buch auch Hoffnung, dass es Menschen wie Carla del Ponte gibt, die dem Idealismus und der Menschlichkeit verhaftet sind. Wenn solche Personen scheitern, gibt es andere, die in diese Rolle schlüpfen. In Syrien blieb ihr zwar der Erfolg vergönnt, doch in Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien konnte sie trotz heftigen Widerstands Kriegsverbrecher hinter Gitter bringen und damit etwas Gerechtigkeit für die Überlebenden erreichen.

Carla del Ponte: «Im Namen der Opfer – das Versagen der UNO und der internationalen Politik in Syrien», Giger Verlag, 190 S., etwa Fr.27.- 

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