POSTKARTEN BUCHTIPP: Das Ende der Welt

Was geschieht, wenn unsere Welt untergeht? Wenn die Menschen wissen, dass die Erde auf ihr Ende zusteuert? Dieses Gedankenexperiment hat der Westschweizer Autor C. F. Ramuz vor 100 Jahren in seinem apokalyptischen Roman «Sturz in die Sonne» (auf Französisch: «Présence de la mort») gemacht, der jetzt auf Deutsch erscheint. Nach einem Jahrhundertsommer, während dem die Temperaturen Extremwerte erreichten, überlegte sich Ramuz, was wohl passieren würde, wenn die Erde plötzlich nicht mehr um die Sonne kreist, sondern direkt auf diese zurast. 

Ramuz beschreibt in 30 unabhängigen kurzen Kapiteln das anstehende Ende unserer Existenz. Und wie er das macht! Er lässt unterschiedliche Leute in unterschiedlichen Lebens- und Alltagssituationen auftreten, denken und sprechen. Zu Beginn können sie es nicht glauben. Was gross auf den Titelblättern der Zeitungen steht, sei falsch. Man fühlt sich an die «Fake News»-Debatte von heute erinnert. Doch allmählich steigen die Temperaturen. Die Natur verändert sich. Die Gletscher schmelzen. Der Lac Léman wird zu einem toten Gewässer. Menschen und Tiere lechzen nach Schatten und Wasser. Die Alltagsroutine gerät durcheinander. Staatliche Strukturen und die soziale Ordnung brechen auseinander. Bewaffnete Dorfgemeinschaften verteidigen ihr Hab und Gut. Die Natur verdorrt. Tiere sterben, Menschen sterben. Die Temperaturen steigen und steigen. Die Sonne wird grösser, röter. Was ist das Leben? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es ein Danach?

Es sind grosse Themen, die Ramuz ins Zentrum seines wahnsinnigen Romans rückt. Fragen, die er durch einfache Leute in ihrer einfachen, manchmal rustikalen Sprache beantworten lässt. Doch was die Leute sagen, wie sie handeln, und wie er die Natur beschreibt, hat eine existenzielle Tiefe, die in der Schweizer Literatur einzigartig ist. Ramuz ist seit jeher ein Meister darin, die Menschen mit unausweichlichen Situationen und dem Tod zu konfrontieren. Bei Ramuz wird der Mensch zu einem ängstlichen Staubkorn im grossen Universum, in dem alles, Mensch und Natur, miteinander verwoben ist. «Sturz in die Sonne» ist ein grandioses Leseerlebnis und eine wichtige Wiederentdeckung in der Schweizer Literatur. 

C.F. Ramuz: Sturz in die Sonne. Übersetzung von Steven Wyss, Limmat Verlag Zürich 2023. 192 S., rund 30 Fr. (Originalausgabe: «Présence de la mort», Éditions Georg, Genève 1922)

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Siehe auch: C.F.Ramuz: Aline (1907), Die grosse Angst in den Bergen (1926), Erinnerungen an Igor Strawinsky und Robert Auberjonois (1928)

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