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Ein glänzendes Flugobjekt
Ein glänzendes Flugobjekt
Wie einnehmend sind die alten, geheimnisvollenn Stummfilme: Die weissen Gesichter der hilflosen Damen mit den dramatisch geschminkten Augen und dem auch im Schwarzweiss-Film rot scheinenden Mund. Die Herren im Strassenanzug der 1920er Jahre mit Stock und Hut, die galanten Bewegungen wirken manchmal filmtechnisch etwas abgehackt. Musik untermalt die Handlung, der Projektor rattert rhythmisch, der sporadische Dialogtext ist eingeblendet. Dieselbe Wirkung entfaltet das neueste Buch von Dana Grigorcea «Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen», in dem die Dialoge die teils traumwandlerischen Episoden im pulsierenden New York der Roaring Twenties begleiten. Der junge Skulpteur Constantin Avis ist auf Einladung des berühmten Galeristen Milner angereist mit seinem aktuellsten Werk im Koffer.
Auf der zweiten Ebene des Buchs reist eine Schriftstellerin mit Kind und Kindermädchen an die ligurische Küste, um dort eine Erzählung über den Skulpteur Avis zu schreiben, unschwer erkennbar als den rumänisch-französischen Skulpteur Constantin Brâncuși. In beiden Erzählsträngen mäandert eine Liebesgeschichte durch die Seiten.
Der eigentliche Clou in «Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen» ist Avis’ Problem bei der Einreise am amerikanischen Zoll, wo die Beamten die abstrakte Skulptur nicht als Kunst anerkennen und daher verzollen wollen. Es kommt zum Gerichtsprozess: Was macht Kunst aus? Die Erkennbarkeit? Die harmonischen Proportionen? Das ästhetische Empfinden? Das Gefühl von grosser Schönheit? Brâncuși gewinnt den Prozess vom 28. November 1928 – genauso Avis in Dana Grigorceas charmantem, filmreifen Roman, in dem sie Leben und Kunst ineinander verwebt. Und Brâncușis Skulpturen? Sie faszinieren noch heute im Zusammenspiel von vollendeter Form, Lichtreflexion in der Oberfläche und dem scheinbaren Atmen des Kunstwerks.
Dana Grigorcea: Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen. Penguin Verlag, 223 S.,etwa Fr. 33.-