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POSTKARTEN BUCHTIPP: Vom Tabu zur Propaganda
Vom Tabu zur Propaganda
Man reibt sich verwundert die Augen. Ausgerechnet Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels wollte mit Jazz, den er 1938 als «entartet» oder «Niggermusik» verboten hatte, die Moral der Briten unterwandern. Er liess die Jazzband «Charlie and His Orchestra» gründen, die dem propagandistischen Radioprogramm «Germany Calling» einen mitreissenden, freizügigen Sound lieferte. Nazi-Deutschland ist eben nicht nur Militär- und Marschmusik.
Demian Lienhard erzählt in «Mr. Goebbels Jazz Band» diese wahre, historisch wenig bekannte Episode. Je mehr man in den Roman eintaucht, desto mehr staunt man. Zu den Musikern gehören Halbjuden und Dissidenten, die wissen, dass sie jederzeit an die Front oder in die Lager geschickt werden können, falls Goebbels aus einer Laune heraus dieses musikalische Experiment abbricht.
Der Schriftsteller lässt zwei Akteure auftreten. Der irische Faschist William Joyce lässt sich mit seiner Frau in Deutschland nieder, um die Eroberung Grossbritannien durch die Nazi vorzubereiten. «Lord Haw-Haw» ist Moderator und Verantwortlicher des Radioprogramms. In Berlin nimmt sich Lienhard des fiktiven Schweizer Schriftstellers Fritz Mahler an, der 1940 unerwartet den Auftrag erhält, einen Roman über Joseph Goebbels› Jazzband und William Joyce zu verfassen. Die Arbeit am Manuskript fällt Mahler schwer, wird zu einer Irrfahrt durch Nachtleben, Alkoholexzesse und innere Abgründe.
«Mr. Goebbels Jazz Band» ist die abenteuerliche Entstehungsgeschichte des gleichnamigen Buchs. Mahler, respektive Lienhard beschreibt die Musikproben, das klandestine Künstlermilieu und die verruchten Bars farbig, ebenso die Not des Autors, die Unmengen an Akten und Erwartungen zu bändigen. Allerdings hat Lienhards Sprache leider nicht viel gemeinsam mit der Leichtigkeit und Verspieltheit des Jazz. Sie wirkt gelegentlich schwerfällig, seine Sprachbilder sind oft überkonstruiert. Das erinnert an den verzweifelten Mahler, der in seinem Roman ebenfalls um den richtigen Dreh kämpft. Vergeblich. Vielleicht liegt gerade darin der Kunstgriff.
Demian Lienhard: Mr. Goebbels Jazz Band. Frankfurter Verlagsanstalt, 2023. 320 S., ca. 35 Fr.