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Im grossen Körper der Welt

Im grossen Körper der Welt

Sie schläft auf der Erde, streift tagelang durch die Felder und wälzt sich im nassen Sand. Sie pflückt Blätter von Bäumen, treibt in kalten Flüssen und lässt sich die Haare kämmen vom Wind. Sie tunkt die Füsse in den Wald, isst Salat aus wildem Lattich, schaut den Vögeln beim Fliegen zu und hüllt sich in den Duft wilder Lilien.

Bis sie dreizehn Jahre alt ist, wächst sie in einem Tal auf, bei ihrer Mutter, dann fliehen die beiden. Weshalb, ist unklar. Wohin, wissen sie nicht. Eines Abends kommt die Mutter nach Hause und sagt: «Wir machen Schluss mit allem und beginnen mit nichts von vorne.» Ihr Leben wollen sie leben. Nur das. Und nichts anderes. Von da an sind sie unterwegs. Manchmal arbeiten sie auf einem Bauernhof oder in einer Fabrik. Lange bleiben sie nie an einem Ort. Weiter, nur immer weiter.

Douna Loups Roman «Verwildern» ist das Protokoll einer Reise, die nie zu Ende geht, die Aufzeichnung einer Recherche, die an kein Ziel kommen kann, weil jedem Ziel nur wieder ein weiterer Aufbruch folgen könnte. Die junge Frau sucht ihren Bruder, den die Mutter ihr lange verheimlicht hat. Zieht durch Dörfer, Städte und Inseln, über Berge, Wälder und weite Ebenen. Bei Douna Loup wird alles eins, die ganze Welt wird zum grossen Körper, einem einzigen Organismus, in dem sich der Mensch verliert wie die Samen eines Löwenzahns in einem Windstoss.

Die junge Frau hat keinen Namen, manche nennen sie Olo, aber was sind schon Namen, denn vor allem ist da Barnabea, mit dem sie die Liebe entdeckt. Barnabea, in dessen Körper sie erfährt, was es heisst, einen Körper zu haben. Ob Barnabea Mann oder Frau ist, ist einerlei, irgendwie ist sie beides und vielleicht auch keines von beidem, aber für Olo ist er so etwas wie Heimat. In den wilden Wegen der Welt, auf denen man verloren ist. So verloren, wie wenn man zuhause wäre.


Douna Loup: Verwildern. Limmat Verlag, Zürich 2024, 152 S., etwa Fr. 30.-
Übersetzung: Steven Wyss
Originalausgabe: «Les Printemps sauvages», Editions Zoé, Genève 2021

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