POSTKARTEN BUCHTIPP: «Aus meinen Schmerzen ein Fest machen»

Es gehört zu den Mysterien des Lebens: Was ist? Was bleibt? Sind es Erinnerungen oder Begegnungen, Gedanken oder Ideen? Bei der Autorin Gertrud Leutenegger ist das Schreiben ein solch existenzieller Prozess: Die Suche nach Sinn – und dafür die richtige Sprache zu finden. 

Seit ihrem ersten Roman «Vorabend», den die Grande Dame der Schweizer Literatur 1975 beim Suhrkamp Verlag veröffentlichte, sind Romane und Gedichte dazugekommen. Die Texte zeugen von einer feinen Beobachtungsgabe und sensiblen Sprache. Mal nutzt sie ihren ironischen, mal humorvollen Schreibstil, um Themen wie Beziehungen, Alter, Geschlechterrollen und gesellschaftliche Konventionen zu beleuchten. 

Ihr neuestes, wunderschön gestaltetes Büchlein «Partita» ist ein sehr intimes Werk. Gertrud Leutenegger bietet persönliche Einblicke in ihre Gedankenwelt. Es sind kurze Sätze, Aphorismen gleich, die sich über eine bis vier Zeilen erstrecken, Bemerkungen, die sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt haben. Die nicht chronologisch angeordneten Notate fliessen spielerisch, ja geradezu musikalisch durch «Partita» und laden ein, die Gedanken weiterzuführen und in neue Welten einzudringen.  

Es sind wunderbare, anregende Sätze wie «Spielen mit meinem Gott» oder «Gerade und nur dem erwachten Menschen ist die Natur ein Traum». Man staunt mit der Autorin über das Wunder der Existenz und sinniert. «Eine einzige grosse Fuge; ohne Konzession.» Gertrud Leutenegger reflektiert auch das Schreiben, ihr Schreiben. «Schreiben ist wie ein Verbrennen.» Oder: «Das Gelebte nicht als Material, als Grund der Sprache, als unstillbar forttreibende formgebende Kraft.» Es sind diese Kräfte der Existenz, die Getrud Leutenegger umkreist und denen sie sich immer wieder auf federleicht-faszinierende Weise annähert. «Nie vergessen: Das Wilde. Die Kühnheit. Der Schrei.» Und: «Aus meinen Schmerzen ein Fest machen.»

Gertrud Leutenegger: Partita. Nimbus Verlag, 84 S., Fr. 22.-.

Der Autorin wurde soeben der Solothurner Literaturpreis 2023 zugesprochen, und das Kunstmuseum Chur zeigt vom 18. Februar bis zum 30. Juli eine Ausstellung zum Werk von Ilse Weber, deren Zeichnung «Fluss geht durch den kahlen Wald» Gertrud Leuteneggers Buch schmückt.

«Vorabend» von Gertrud Leutenegger ist einer der Coup de coeur in 99 besten Schweizer Bücher

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