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Poetisches Zwiegespräch

Mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings kommt «Das 48-Stunden-Gedicht» daher, es flattert, wirft grazile Schatten und lässt sich zart wippend nieder – bis ein Windhauch es weiterträgt. Die poetische Zartheit verbirgt die komplexe Entstehungsgeschichte des deutsch-japanischen Kettengedichts von Jürg Halter und Tanikawa Shuntarō. Die zwei Dichter, unterschiedlich nach Lebensalter und kultureller Herkunft, finden eine gemeinsam vibrierende Wellenlänge.

2014 setzten sich der japanische Lyrik-Altmeister Tanikawa (*1931) und der Schweizer Poet und Ex-Rapper Halter (*1980) für fünf Tage in Tokyo zusammen und strukturierten das Kettengedicht in 48 Stunden. Der experimentierfreudige Japaner schreibt die geraden Stunden «wie ein Hase», daneben der junge Schweizer eher «wie eine Schildkröte». Trotz der unterschiedlichen Schreibtempi entsteht eine intensive Nähe, die die üblich einsame Arbeitsweise der Poeten durchbricht. Unüblich auch der Zeitdruck für die zwei Lyriker, die miteinander nur auf Englisch kommunizierten. Ein Übersetzerduo übertrug Strophe um Strophe, um sie dem Gegenüber zugänglich zu machen. Nicht immer beziehen sie sich auf das Vorangegangene. Japanische Alltagsszenen reflektiert Halter mit dem Staunen des Fremden, während Tanikawa mit scharfem Blick und Verspieltheit seine Beobachtungen analysiert und sprachlich transformiert. Zusammen flechten die zwei Meister der zeitgenössischen Poesie ein inspirierendes Gesamtkunstwerk, ergänzt durch Zeichnungen von Yves Netzhammer und Tabaimo.

🎥 Über das Entstehen des 48-Stunden-Gedichts, Beitrag SRF-Tagesschau 14.9.2014

Jürg Halter/Tanikawa Shuntrō:«Das 48-Stunden-Gedicht» Ein Kettengedicht. Deutsch und Japanisch. Wallstein Verlag, 48 S., etwa Fr. 30.-
Illustrationen: Yves Netzhammer und Tabaimo
Herausgeberinnen: Marie Kakinuma und Susanne Schenzle
Übersetzung: Franz Hintereder-Emde und Fuminari Niimoto

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