POSTKARTEN BUCHTIPP: Alphabeth der Hoffnung

Marie-Jeanne Urechs Roman «X wie Dictionnaire» ist eine Untergangsparabel von rätselhafter Leuchtkraft. Im Zentrum steht Simon, ein Lampist, der Nacht für Nacht die Laternen einer zerfallenden Stadt entzündet. Während die Bewohner nach Belgador fliehen, einer verheissungsvollen Illusion, hält er die Finsternis zurück. Jeder Lichtkegel wird zur Geste des Widerstands, der Hoffnung – und zum Bild für Beharrlichkeit.

Die Stadt selbst zerfällt: Wohnungen verwaisen, Strassen versinken im Dickicht der wuchernden Natur, die Nacht frisst sich in die Mauern, der Pegel des farblosen Seemeers steigt. Doch bei Simon glimmt Leben. Er begegnet einer Frau, die wie eine moderne Atlasfigur ihr Haus auf den Schultern trägt, und einem Kind, das aus dem Wasser gespült wird – stumm, verstört und mit einem unausgesprochenen Versprechen, wie der kleine Moses in der Bibel. Der Junge wird Gefährte, Hoffnungsträger. Simon führt ihn ins Reich der Sprache ein, Buchstabe für Buchstabe, mit einem schrägen, poetischen Abecedaire.

Urechs Sprache ist von schimmender, bisweilen surreal anmutender Bildkraft, zart, poetisch und grotesk. Ihre Figuren treten aus einer Traumlogik hervor und wachsen der Leserin ans Herz. Zwischen Satire und Melancholie entfaltet sich eine Erzählung vom Festhalten und vom Loslassen, von der Möglichkeit eines Neubeginns. Simon und der Junge harren aus, bis die letzte Raumfähre sie von der Erde entreisst, hinüber in eine neue Welt, von neuer Hoffnung getragen. 

«X wie Dictionnaire» erzählt nicht nur vom Ende. Es ist ein literarisches Mosaik über die Kraft von Sprache, Erinnerung und Gemeinschaft – ein Glimmen, das selbst im Untergang nicht erlischt.

Marie-Jeanne Urech: «X wie Dictionnaire». Roman. Übersetzung Lis Künzli. (Original: «K comme Almanach» bei Hélice Hélas Éditeur, 2022) Rotpunktverlag Edition Blau, 2024. 136 S., etwa Fr. 27.-

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