POSTKARTEN BUCHTIPP: Abgründe der Autobahnraststätte

Im französischsprachigen Raum hat der Roman noir eine grosse Tradition. Er lotet die Menschen, ihre dunklen Seiten so weit aus, bis es wehtut. Der mehrfach preisgekrönte Westschweizer Autor Joseph Incardona ist ein Virtuose dieses Genres. Mit «Asphaltdschungel» hat er einen Roman geschrieben, der die sprachlichen und inhaltlichen Limiten sprengt und durch seinen unerbittlichen, gnadenlosen Blick besticht.

Wir befinden uns im Süden Frankreichs auf einer Autobahnraststätte. Es ist gleissend heiss. Autos, Beton, trostlose Umgebung, schlechte Gerüche. Der Ort wird bevölkert von einer Schicksalsgemeinschaft, die zusammenfindet und sich zeitgleich wieder auflöst. «Überquellende Abfalleimer. Angeschlagene Betonpicknicktische, rostige Stummel an den Ecken. Entlang der Büsche der Umzäunung: Scheisshaufen. Dahinter Stoppelfelder, vom Horizont verschluckt. Fliegen auf der Windschutzscheibe, Schwirren, Surren.»

Hier lebt der ehemalige Rechtsmediziner Pierre Castan. Er sucht seine Tochter Lucie, die auf der Autobahnraststätte verschwunden ist. Sein einziges Ziel: den Mörder zu finden. Im Niemandsland begegnen wir den den Betreibern der Autobahnraststätte, schlecht bezahlten Angestellten, Lastwagenfahrern, Prostituierten, Touristen, Roma und anderen Autobahnbewohnern.

Erst als ein zweites Mädchen verschwindet, taucht staatliche Hilfe auf: die Capitaine der Gendarmerie, Julie Martinez, und ihr Untergebener, Lieutenant Thierry Gaspard. Systematisch machen sie sich auf die Suche mit Sperrungen, Helikoptern, Hundestaffeln, Wärmebildern. Mit erzählerischem Geschick und Perspektivenwechseln beschreibt Incardona die frustrierende, ergebnislose Fahndung. Eine existenzielle, eine grossartige Leseerfahrung, bei der man sich am Schluss glücklich schätzen kann, dem «Asphaltdschungel» heil entkommen zu sein. 

Joseph Incardona: «Asphaltdschungel», Lenos Verlag 2019, 339 S. Übersetzt von Lydia Dimitrow. («Derrière les panneaux il y a des hommes», Editions Finitude, 2015)

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