POSTKARTEN BUCHTIPP: Mutmassungen über Erna

Es ist etwas geschehen. Etwas Ungeheures. Wahrscheinlich. Am Morgen danach ist allerdings nicht mehr so klar, was sich an diesem Abend genau abgespielt hat. Auch denen, die dabei waren, nicht. Sofern man sie noch findet. Die meisten sind weg. Und die, die noch da sind, wissen nicht, ob sie ihrer Erinnerung trauen dürfen. Ein feuchtfröhlicher Abend, trinken, tanzen. Und auf einmal ist die ganze Gesellschaft bei Erna. Einer Riesin. Egon, der kleine Egon, will sich mit ihr – ja, vermählen. So muss man das wohl verstehen. Er steigt ihr auf die Knie. Was dann geschieht, verliert sich im Ungefähren. Die, die dabei waren, erinnern sich, einen Schrei gehört zu haben. Schauerlich.

«Die Riesin» von Kurt Marti ist 1975 erschienen. Den Leserinnen und Lesern war der Pfarrer der Berner Nydeggkirche damals schon ein Begriff. Als politisch engagierter Mensch, als Lyriker, als moderner Mundartdichter, als einer, der mit seinen «Leichenreden» die religiöse Dichtung auf neue Wege geführt hatte. Aber nicht als Erzähler. Wobei «Die Riesin» eigentlich auch keine Erzählung ist. Jedenfalls nicht so, wie man sie erwartet. Marti selbst tat sich schwer mit der Gattungsbezeichnung. Ein Roman? Vielleicht. Oder doch nicht? Am ehesten «Eine Nachforschung».

Kurt Martis umfangreichstes Prosawerk, das zum Glück wieder in einer Neuausgabe vorliegt, schildert den Versuch, ein Ereignis zu rekonstruieren. Aus den Nachbeben, die es ausgelöst hat. Berichte, Protokolle, Dialoge, Träume, Erinnerungen an Gespräche, die vielleicht nie stattgefunden haben: Marti breitet ein verwirrendes Puzzle aus, in dessen Teilen sich Reflexe dessen finden, was man gern als Tatsachen bezeichnen würde. Wenn man denn könnte. Eine Erzählung über die Unmöglichkeit des Erzählens. Und über die Notwendigkeit, es immer wieder von neuem zu versuchen. Obwohl man weiss, dass man nie über Mutmassungen hinauskommen wird.

Kurt Marti: Die Riesin. Eine Nachforschung. Roman. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 164 S. Fr. 33.90.

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