POSTKARTEN BUCHTIPP   Dreiundsechzig Orte

Das Hotelzimmer zum Beispiel. Ein besonderer Ort, ohne Zweifel. Laurence Boissier beginnt ihr «Inventar der Orte» mit ihm. Und fragt sich, wo in einem Hotelzimmer das höchste «Schwingungspotenzial» herrsche. In der Matratze selbstverständlich: «Die Matratze in einem Hotelzimmer lädt sich mit den menschlichen Beziehungen auf, von den besten bis zu den schlimmsten.» Das klingt einleuchtend, und ein paar Zeilen weiter werden wir uns der Einsicht nicht verschliessen, dass wir, wenn wir am Morgen in einem Hotelzimmer erwachen, aufstehen, uns recken und die Schlacke mit uns nehmen, «die die Matratze über Nacht ausgeworfen hat».

Zwischen «Die Matratze» und «Die Wiese» liegen einundsechzig weitere Orte, deren Seltsamkeiten die Genfer Autorin nachspürt. In wunderbar schwebenden Miniaturen, die kaum länger sind als zwei Seiten, aber uns mitnehmen auf schwindelerregende Kopfreisen durchs ganze Universum. Zum Beispiel mit der zunächst überraschenden, aber doch irgendwie beunruhigenden Einsicht, dass Europa sehr ungleich ausgestattet ist, was Einschlaglöcher von Meteoriten betrifft. Mit der Beobachtung, welche unendliche Vielfalt von Orten der Begriff «Tankstelle» in sich birgt. Oder mit der Information, dass ein Tag auf dem Pluto 6,3 Erdentagen entspricht.

Die 2022 verstorbene Laurence Boissier hat einen untrüglichen Blick für das, was nicht da ist. Aber da sein könnte. Und vielleicht ja trotz allem irgendwie da ist, weil es sich als Möglichkeit in und hinter den Orten und Dingen verbirgt, zwischen denen wir uns nur deshalb so achtlos bewegen, weil wir nicht genau genug hinschauen. Die kleinen grossen Geschichten im «Inventaire des lieux», für das Boissier 2017 den Schweizer Literaturpreis bekam, sind schräg, umwerfend komisch, erschreckend. Ein ironischer Reiseführer durch die Abgründe des Banalen.

Laurence Boissier: Inventar der Orte. Übersetzt von Hilde Fieguth. Verlag Die Brotsuppe. 136 S., Fr. 29.-.

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