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Wenn ich ein Mann wäre

 

Wenn ich ein Mann wäre

Es ist Ferienzeit, wir fahren weg: 1 Woche, 10 Wochen, 10 Jahre?! Lina Bögli, eine Bauerntochter aus dem Bernbiet, machte schon vor über 100 Jahren keine halben Sachen. Sie schiffte, allein als Frau (!), in Brindisi ein für eine zehnjährige Weltreise. Das Geld würde bei ihrer Ankunft fünf Wochen später aufgebraucht sein, doch sie hat vor, zu arbeiten. Denn die 34-Jährige hat sich nicht blindlings in das Abenteuer gestürzt. Statt als Schweizer Bauernmagd zu enden, ist sie als Kindermädchen in den Dienst einer Adelsfamilie getreten, kehrt für zwei Jahre heim, um ein Lehrerinnendiplom in Neuchâtel zu erwerben, und wird in Krakau wieder eingestellt, diesmal als Hauslehrerin. Vor einer unglücklichen Liebe flieht sie schliesslich «ans andere Ende der Welt», denn sie weiss, sie braucht Distanz – und das Geld für die Rückkehr wird sie jahrelang erarbeiten müssen. 

Bekannt geworden ist der Reiseroman «Talofa», weil Bögli die Weltreise dokumentiert, die Erlebnisse tagebuchartig festgehalten und später veröffentlicht hat. Sie gilt als erste Schweizer Reiseschriftstellerin. Es ist der Blick einer in Polen an das kulturelle Leben gewohnten, vielseitig interessierten und selbstbewussten Frau, damals noch Fräulein genannt. Ihre Berichte zeugen von der europäischen Sichtweise voller Vorurteile. Den «wilden» australischen Eingeborenen kann sie auch nach vierjährigem Aufenthalt nichts abgewinnen, bei ihrer Ankunft in Neuseeland jedoch begeistern sie die fortschrittlichen Rechte der Frauen in Beruf und Alltag. 

Über Samoa und Hawaii geht es 1897 weiter in die USA. Als arbeitende Erzieherin durchquert die Schweizerin das riesige Land. Zudem bereist sie Kanada, bevor sie pünktlich nach 10 Jahren am 12. Juli 1902 wieder in Krakau eintrifft. Dort verfasst sie den Briefroman «Forward» zuerst auf Englisch, 1906 erscheint er unter ihrem Reisemotto «Vorwärts» auf Deutsch. Später wird der Willkommensgruss aus Samoa «Talofa» zum Titel, um Verwechslungen auszuschliessen.

Lina Bögli wird es wieder in die Ferne ziehen, doch 1914 kommt sie zurück. Die Mischung aus Naivität, Witz und Strenge machen «Talofa» zu einem lesenswerten, lebendigen Zeitdokument für Reisende wie Daheimbleibende.

Lina Bögli: Talofa. In 10 Jahren um die Welt. Lenos Verlag, Neuauflagee 2023. 280 S., Fr. 22.-

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