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So etwas wie eine Maus

So etwas wie eine Maus

Sie war geschickter als die anderen. Schneller. Und die Muster, die sie stickte, waren akkurat. Genauso, wie es sein musste. Schon als fünfjähriges Mädchen war Maria Antonia Räss aufgefallen, weil sie die Fäden der Stickmaschinen schneller einfädeln konnte als alle anderen. Im Webkeller auf dem Grüt war das, einem kleinen Bauernhof im innerrhodischen Eggerstanden. 1893 kam Maria Antonia dort zur Welt. Als siebtes von vierzehn Kindern. Und von dort aus eroberte sie die Metropolen Europas und Amerikas.

Die Geschichte, die Margrit Schriber in ihrem neuen Roman «Die Stickerin» erzählt, klingt wie ein Märchen. Doch sie ist keines. Auch wenn sie in einem engen Heimetli auf dem Land beginnt und am Ende in ein Apartment in einem Wolkenkratzer in Manhattan führt. Margrit Schriber erzählt die Geschichte der Stickerin, die es zu Weltruhm brachte, so, wie sie sich ereignet hat. Aus schriftlichen Quellen. Sie kann die Details Geschichte belegen, die meisten wenigstens. Aber sie erzählt sie so, wie man Geschichten erzählen muss: So, dass man sie auch dann gern hören würde, wenn sie nie geschehen wären.

Unter Margrit Schribers Händen wird die Geschichte der Stickerin zu einem Panorama des 20. Jahrhunderts. Die Präsidentengattin Eleonore Roosevelt, die Schauspielerin Julie Andrews, der Geiger Isaac Stern – sie alle waren Freunde von Maria Antonia Räss. Und vielleicht, wer weiss, hat Walt Disney die Idee zur weltberühmten Mickey Mouse tatsächlich von einem kleinen Holztäfelchen geholt, das er Maria Antonia abgekauft hatte. Ihr Vater hatte es gemalt. Und wenn man es genau genug anschaute, war darauf so etwas wie eine kleine Maus zu sehen.

Margrit Schriber: Die Stickerin. Bilgerverlag, Zürich 2024. 233 S., etwa Fr. 35.-.

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