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POSTKARTEN BUCHTIPP: «Ich bin nicht Stiller!»
Das Schrecklichste an der Vorstellung der Unsterblichkeit, hat Jorge Luis Borges einmal gesagt, liege für ihn darin, auf immer und ewig Jorge Luis Borges sein zu müssen. Vielleicht ist dies das Dilemma des Menschen: Wir sind, wer wir sind. Obwohl wir andere werden können. Aber wir sind nicht nur die, als die wir uns entwerfen. Wir sind vor allem auch die, zu denen die anderen uns machen. Identität ist eine soziale Kategorie, mindestens so sehr, wie es eine persönliche ist. Wir können ihr nicht entfliehen.
«Ich bin nicht Stiller!», sagt der Protagonist in Max Frischs 1954 erschienenem Roman «Stiller». Bei der Einreise in die Schweiz wird er aufgegriffen. Mit einem amerikanischen Pass, der auf James Larkin White lautet. Die Polizei, die Behörden halten ihn für Anatol Ludwig Stiller, einen Bildhauer, der spurlos verschwunden ist. Freunde und Bekannte von Stiller identifizieren White als Stiller. Seine Frau Julika auch. Er leugnet. Vom Bildhauer will er nie gehört,Julika nie gesehen haben.
Alles spricht gegen Stiller. Er bleibt dabei, nicht der zu sein, der er sein soll. Angesichts der Beweislage sei es lächerlich, weiter zu leugnen, sagt Stillers Verteidiger. «Es ist lächerlich», antwortet Stiller, «aber wenn ich gestehen würde, was Sie gestanden haben möchten, Herr Doktor, dann wäre es noch lächerlicher.» Der Verteidiger versteht nicht, und Stiller dreht die Verwirrung um eine Schraubendrehung weiter: «Das weiss ich, darum bin ich ja genötigt, Herr Doktor, alles zu bestreiten, was Sie von mir sagen –»
Max Frischs «Stiller» ist ein virtuoses Kartenhaus von Behauptungen, Fakten, Unwahrheiten und Fremd- und Selbstbetrug. Ein Monument der Schweizer Literatur. Seltsam, dass es siebzig Jahre gebraucht hat, bis sich ein Drehbuchautor und ein Regisseur an den Stoff gewagt haben. Jetzt ist es so weit: Im Oktober kommt Stefan Haupts Film «Stiller» in die Kinos. Mit Starbesetzung: Paula Beer, Max Simonischek, Marie Leuenberger und Albrecht Schuch. Man kann gespannt sein. Und hat einen Grund, «Stiller» zu lesen.
Max Frisch: Stiller. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin. 448 S., Fr. 17.90
Im Buch «99 beste Schweizer Bücher» ist Max Frisch mit der Erzählung «Der Mensch erscheint im Holozän» von 1979 vertreten.