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Hypnotisches Zirpen im Alltag
Manche Töne ziehen uns vom ersten Moment an in ihren Bann – wie das hypnotische Zirpen der Zikaden im Mittelmeerraum. Es ist ein überlautes, poetisches Konzert, dessen Ursprung man nicht genau fassen kann, das aber unvermittelt zur Begleitung wird.
Ähnlich zirpend ist der Lyrikband «Und überlaut die Zikaden» der beiden Basler Autorinnen Valerie-Katharina Meyer und Julia Rüegger. In einem kreativen Ping-Pong werfen sich die beiden Gedanken und Sätze zu, vertiefen und verweben sie zu existenziellen Miniaturen über das Leben und den Alltag.
Inspiriert vom französischen Philosophen Gilles Deleuze, der das Denken als etwas beschreibt, das sich in den «Löchern» ereignet, widmen sich Meyer und Rüegger den Zwischenräumen: den mehrschichtigen Geschichten und dem Unerwarteten. Ihre Texte leuchten die Doppelbödigkeit unserer Existenz aus und laden dazu ein, sich abseits klarer Orientierungspunkte zu verlieren – ein literarisches Abenteuer, das ebenso verunsichert wie inspiriert.
Das Buch ist keine konventionelle Gedichtsammlung, sondern ein dialogisch-poetisches Experiment. Die Autorinnen kommunizieren in Form von lyrischen Fragmenten und Beobachtungen, die oft wie flüchtige Gedanken wirken. Die Sprache ist mal zugänglich, mal rätselhaft, stets jedoch berührend. Da ist etwa die Autorin, die nur kniend schreiben kann, als suche sie etwas im Teppich, oder der Künstler, der seine Kunst nur im Kopf kreiert, weil er rund um die Uhr auf seine Eltern aufpassen muss.
Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Orientierung oder Antworten. Im Vorwort heisst es: «Wir glauben nicht, dass ihr euch hier zurechtfinden werdet.» Diese bewusste Verlorenheit spiegelt sich in den Texten wider, die sich mit Themen wie Zugehörigkeit und Identität in einer fragmentierten Welt auseinandersetzen.
Meyer und Rüegger erkunden neue Formen des literarischen Miteinanders. Ihre Texte sind zart und insistierend, fragil und kraftvoll. «Und überlaut die Zikaden» ist ein leiser, schmaler Band, der nachhallt. Es zeigt, dass oft nicht die lautesten Stimmen recht haben, sondern jene, die wissen, wie man schweigt und schlendert. Ein Werk, das die Kunst des Verlorenseins feiert und uns auf wundersame Weise zurück zu uns selbst führt.
Valerie-Katharina Meyer, Julia Rüegger: «Und überlaut die Zikaden», Edition Mosaik 2025, 84 S., etwa Fr. 20.-