POSTKARTEN BUCHTIPP: Mutmassungen über S.

Mutmassungen über S.

Wahrscheinlich gibt es das in allen Familien: Dinge, über die man nicht spricht. Weil man nicht darüber sprechen kann. Und vielleicht kann man nicht darüber sprechen, weil man die Geschichte hinter den Dingen, die Geschichte, die eigentlich zu erzählen wäre, nicht kennt. Und auch gar nicht weiss, dass es diese Geschichte gibt. Seka sucht die Geschichte ihrer Familie. Ihre Eltern sind aus Bosnien in die Schweiz gekommen, mit ihr und ihrem Bruder. Die Ehe der Eltern scheiterte, der Vater war gewalttätig, er schlug die Mutter, bis diese versuchte, sich das Leben zu nehmen. Als Seka Anfang zwanzig ist, erhält sie von ihrem Vater einen Briefumschlag: Fotografien von Seka als Kind, als Jugendliche. Familienbilder der Mutter, der Grosseltern, Tanten. Kein Brief dazu, keine Erklärungen. Aber vielleicht Spuren. Seka recherchiert, sucht nach der Geschichte, die sich in die Geschichte ihrer Familie eingegraben hat. Sie stösst auf Berichte über das Gefangenenlager Omarska in Bosnien-Herzegowina, wo während des Bosnienkriegs Tausende von Bosniaken und Kroaten unter furchtbaren Bedingungen gefangen gehalten und getötet worden waren. Um die Zeit, als die Gräber um Omarska ausgehoben wurden, lernte Seka schwimmen, in einem Hallenbad in einem Städtchen am Jurasüdfuss. Damit beginnt Mina Havas Roman «Für Seka». Eine Recherche über eine Familie, in der die Versehrungen eines Kriegs nachwirken, auch wenn der Krieg schon vorbei ist. Mina Hava erzählt keine Geschichte. Sie liefert die Bausteine dazu: Fakten, die Seka recherchiert, kurze Notate, Erinnerungen, Beobachtungen. Mutmassungen über das, was Geschichte sein könnte. Und über die Leben von vier Menschen, die sich für ein paar Jahre in dem verknäuelt haben, was wir Familie nennen.

Mina Hava: Für Seka. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023. 278 S., etwa Fr. 33.90.

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