POSTKARTEN BUCHTIPP: Schichten über der Welt

Sie will nicht ins Paradies. Der Sonntagsschullehrer erzählt von glücklichen Menschen, goldenen Strassen und dass dort alles glitzert. Aber auch davon, dass es nie aufhört und für immer ist. Für immer. Das Kind erstarrt. Den Eltern darf sie nicht erzählen, dass sie nicht in einen Himmel will, in dem immer alles so bleibt, wie es ist. Aber für die ist sowieso wichtiger, ob das Kind das Zweifrankenstück in den Opferstock geworfen hat, das sie ihr mitgegeben haben. Und dass es die Zöpfe nicht zerzaust, die die Mutter geflochten hat. Das mit Zeit und Ewigkeit ist vielleicht auch nur eine der Schichten, die die Erwachsenen über die Dinge legen. So werden auch Dinge, die einfach sind, kompliziert, merkt das Kind. Weil die Erwachsenen immer noch eine Schicht drauflegen. Wie bei einer Crèmeschnitte. Myriam Wahlis Roman «Ohne Komma», der im Original 2018 unter dem Titel «Venir grand sans virgules» erschienen ist, erzählt von den Fragen, die das Kind sich stellt, zum Beispiel dann, wenn es mit seinen grossen Brüdern und den Eltern am Esstisch sitzt. Davon, wie die Erwachsenen über eine Welt reden, die sie nicht verstehen. Und davon, wie es ist, wenn die schön geordnete Welt plötzlich einem Riss bekommt, weil der Vater die Arbeit verliert. Die junge, im Berner Jura aufgewachsene Autorin schreibt «Ohne Komma» tatsächlich ohne Komma. Das hält die Sätze offen, gibt dem Text etwas Schwebendes. Als ob sich die Sprache nicht festlegen wollte. Vielleicht ist ja alles viel einfacher.

Myriam Wahli: Ohne Komma. Übersetzt von Yves Raeber. Verlag Die Brotsuppe, Biel 2023. 94 S., Fr. 28.80.

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