POSTKARTEN BUCHTIPP: Traumwandeln in Tokio

Die 30-jährige Claire besucht ihre Grosseltern in Tokio. Seit 50 Jahren leben die beiden Koreaner, die vor dem Krieg nach Japan geflüchtet sind, in der Metropole. Claire hat sich vorgenommen, mit ihren Grosseltern nach Korea zu reisen, in deren einstige Heimat.

Doch dieses Vorhaben wird immer weiter hinausgeschoben und durchkreuzt von subtilen Fragen, die sich wie feine Fäden durch den Roman und die Personen winden: Was ist eigentlich Heimat? Welche Rolle spielen Gefühle und Erinnerungen? Weshalb verändern sie sich im Laufe der Zeit, und wie? Woran soll man sich halten im Leben?

Elisa Shua Dusapin, die Westschweizer Autorin mit franko-koreanischen Wurzeln, hat mit «Die Pachinko-Kugeln» einen poetischen, feinfühlig-vibrierenden Roman geschrieben, der sich mit Identität, Grenzen und Leerstellen befasst. Bereits in ihrem vielbeachteten Debüt «Winter in Sokcho», mit dem sie zahlreiche Preise gewann, darunter 2021 den National Book Award for Translated Literature, der sie über Nacht berühmt machte, taucht Elisa Suha Dusapin ein in die biographischen Verästelungen und kulturellen Herkünfte ihrer Protagonisten.

Die Pachinko-Kugeln sind eine Metapher für Claires Suche in Tokio. Gleich den Kugeln, die in den Glücksmaschinen ihre zufälligen Weg suchen, ist Claire den erratischen Launen des Lebens ausgesetzt. Es gelingt ihr nicht, den Draht zur Grossmutter zu finden, mit der sie als Kind so gerne kochte. Ebenso wenig zu ihren Eltern in der Schweiz, der Vater Organist. Ihr Freund und Lebenspartner ist nicht mit ihr nach Japan gereist, weil er eine wissenschaftliche Arbeit beenden muss. Und mit dem Mädchen Mieko, das allein mit ihrer Mutter in Tokio lebt und bei Claire Französischunterricht nimmt, entspinnt sich eine Geschichte, fast wie im Traum.

Die Figuren umkreisen sich im Roman, ziehen sich an, stossen sich ab, gleich einem magnetischen Feld. Überall lauern unsichtbare Gravitiationskräfte, die Claire beeinflussen. Die Familiengeschichte, die Erziehung, die Vergangenheit, namentlich der Koreakrieg, die Populärkultur sowie die Sprach- und geographischen Räume bilden die leisen Pole in der lauten, schrillen und artifiziellen Welt der Pachinko-Halle und der Grosstadt Tokio. Ein Roman von traumwandlerischer Schönheit. 

Elisa Shua Dusapin: Die Pachinko-Kugeln. Aufbau Verlage, Blumenbar 2022. 144 S., Fr. 29.80. (Orginalausgabe: «Les billes du Pachinko», Editions Zoé 2018)

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