POSTKARTEN BUCHTIPP: Notizen eines begnadeten Lesers

Lesen ist eine Kunst. «Ein Buch ist ein Spiegel», hat Lichtenberg einmal geschrieben, «wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken.» Das ist so klar wie deftig. Aber die Frage, was wir eigentlich lesen, wenn wir lesen, ist vertrackt, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt. Dass nicht alle das Gleiche lesen, auch wenn sie das Gleiche lesen, erfahren wir immer wieder. Zum Beispiel, wenn wir mit jemandem über ein Buch reden und das Gefühl haben, der andere habe nicht das gleiche Buch gelesen wie wir. Oder wenn wir ein Buch lesen, das wir schon einmal gelesen haben, und uns alles fremd vorkommt, als läsen wir es zum ersten Mal.

Peter von Matt ist ein begnadeter Leser. Einer, der mit analytisch geschultem Blick liest. Und sich zugleich die Fähigkeit bewahrt hat, auch Texte, die er seit langem kennt, immer wieder neu zu lesen. Im soeben erschienenen Essayband «Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten» zeigt er einmal mehr, wie Literatur den Blick auf die Welt verändern kann. Wenn wir sie ernst nehmen, sagt sie uns Dinge über uns, die wir selbst nicht wissen. Von Matt lässt sich auch von vermeintlich Bekanntem überraschen. Und entdeckt immer wieder Neues. Man kann sich glücklich schätzen, wenn der 85-jährige Zürcher Literaturwissenschafter und Essayist von seinen Leseerlebnissen erzählt und Texte zum Sieden bringt, die man innerlich schon lange abgehakt hatte.

Kafkas «Verwandlung» zum Beispiel. Von Matt zieht sie wieder ans Licht, in einem Text zum «Familiengeheimnis», der aus einer Fülle von Bezügen zwischen Texten, die man selbst so nie zusammengebracht hätte, eine faszinierende Lesart entfaltet. Oder Goethes «Faust», wo er unmittelbar neben den abgegriffensten Stellen Unerhörtes zutage fördert. Dass der letzte Text im Buch dem «Struwwelpeter» gilt, hat eine fein ironische Note: ein Text, den alle zu kennen glauben, obwohl ihn niemand wirklich kennt. Eine Figur, die aus dem kollektiven Bewusstsein nicht mehr zu vertreiben ist. Banal und doch geheimnisvoll. Es ist eine Freude zu lesen, wie Peter von Matt aus diesem unscheinbaren Stein Funken schlägt.

Peter von Matt: Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur. Hanser-Verlag, 2023, 240 S., etwa Fr. 39.90.

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