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POSTKARTEN BUCHTIPP: Ein ganz neues Leben
Frederick hat einen Kropf, ist von schwächlicher Statur. Ein Kretin, sagt man in seiner Heimat, dem Wallis. Er stammt aus vornehmer Familie, die Zen Zaenens gehören am Ende des 18. Jahrhunderts zu den Geschlechtern, vor denen man sich verneigt. Aber für den Vater ist es eine Schmach, einen wie ihn als Nachkommen zu haben. Obwohl Frederick Lesen und Schreiben lernt, das Klavizimbel und die Orgel spielt. Im richtigen Takt. Fürs Militär taugt er nicht, und darauf kommt’s an.
Der Vater verstösst ihn, schickt ihn zur Kur. Das Wallis ist von Napoleons Truppen besetzt, aber in Leukerbad ist davon nicht viel zu spüren. Vor allem für Frederick. Er begegnet dem Dienstmädchen Eugènie und weiss nicht, wie ihm geschieht. Sie schenkt ihm etwas, was er bisher nicht kannte: Liebe, Zärtlichkeit. Eine Ahnung davon, dass die Welt mehr sein könnte als ein Ort, wo man nicht hingehört. Für Frederick beginnt ein neues Leben. Für Eugènie auch. Die beiden heiraten, werden Eltern eines Sohns. Eine richtige Familie.
Aber nur fast. Das Wallis bleibt eng. Für einen wie Frederick, der trotz seiner noblen Abkunft Demütigungen über sich ergehen lassen muss. Und für Eugènie, die sich nicht in ein Leben zwängen lassen will, wie man es Frauen damals zugestand. Sie will mehr. Freiheit. An einen allmächtigen Herrn glaubt sie nicht. Und so tun, als würde sie an ihn glauben, will sie auch nicht. Weg also. Weit fort, nach Russland, auf die Krim, wo Major Escher aus Zürich einen Ort gründete für Menschen, die etwas suchen, das sie in der Enge der Schweiz nicht finden: die Kolonie Zürichtal. Nochmals ein ganz neues Leben. Für Frederic. Und für Eugènie.
Der Walliser Raymond Vouillamoz arbeitete als Journalist und Filmkritiker in Neuchâtel. Später drehte er Dokumentarfilme, produzierte Filme fürs Fernsehen, wurde Programmdirektor bei France 3 und beim TSR. Seinen ersten Roman «Eugènie, die Magd des Kretins» publizierte er vor drei Jahren, 78-jährig. Nun liegt die deutsche Übersetzung vor. Eine Geschichte über die Liebe. Über die Freiheit. Und darüber, dass sich beide nicht immer verbinden lassen.
Raymond Vouillamoz: Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise. Bilger-Verlag, Zürich 2022. 180 S., Fr. 30.–.
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Erstausgabe: «La domestique du crétin des Alpes», Editions Mon Village, Sainte-Croix 2019
Fussnoten: Nach seiner Tätigkeit als Programmdirektor beim TSR war Raymond Vouillamoz ab 2005 wieder als Filmregisseur tätig und wurde von der französischen Regierung zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. Im Herbst 2022 wurde der Roman «Eugènie, die Magd des Kretins» von der Stiftung Kreatives Alter Zürich mit einem Anerkennungspreis ausgezeichnet.