POSTKARTEN BUCHTIPP: Niemand will die Stimme hören

Niemand will die Stimme hören

Das Kind hat keinen Namen. Der Vater rettet bedrohte Tiere und Pflanzen, die Mutter ist Bildhauerin, Erziehung verstehen die beiden als etwas, was irgendwie von selbst geschieht. Hauptsache Freiheit, oder das, was sich ereignet, wenn man der Welt aus dem Weg zu gehen versucht. Ein bisschen Spätachtundsechziger, ein bisschen Aussteigertum. Probleme löst man mit Duftöl und Algentabletten. Das Kind ist meist mit sich allein. Im Bergdorf, in dem die Familie wohnt, findet es keine Freunde, in der Schule wird es schikaniert. Abends zieht es Schwimmbrille und Schnorchel an und weint in der Badewanne. Am Morgen sind Pyjama und Bettzeug nass. Die Algentabletten helfen wenig. Selbständigkeit ist ein grosses Wort, das nur irr in seinen Ohren hallt. Fernsehen gibt es nicht, also geht das Kind zu Ege. Der ist Medientheoretiker und ein bisschen Philosoph, trinkt und schimpft, aber immerhin darf man dort fernsehen. Ege dreht Videofilme, irgendwie kommt in denen ein Engel drin vor, aber dass das Kind in diesen Filmen eine Rolle spielt und was sich genau zwischen Ege und dem Kind Dinge abspielt, kümmert die Erwachsenen nicht. In ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» erzählt Sarah Elena Müller auf eindringliche Weise von Kindsmissbrauch. Ohne davon zu erzählen. Indem sie in einer nur scheinbar schlichten Sprache einen künstlichen Nebel schafft, der vom Hinschauen abhält, obwohl alles zu sehen wäre. Indem sie vom Wegschauen spricht. Und von der Einsamkeit eines Kindes, dessen Stimme niemand hören will.

Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen. Roman. Limmat-Verlag, Zürich 2023. 208 S. Fr. 30.-.

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