POSTKARTEN BUCHTIPP: Verstörende Gewalt, berückende Zärtlichkeit

Verstörende Gewalt, berückende Zärtlichkeit

Sie spürt alles. Die kleine Jeanne merkt genau, ob der Vater getrunken hat, wie sich der Klang seiner Stimme verändert, wann er zornig wird, und wann er zu erschöpft ist, um zuzuschlagen. Ganz sicher fühlt sie sich nie: «Ich war immer auf der Hut, unruhig, hatte furchtbar Schiss, und die Angst klebte mir am ganzen Körper». «Lieblingstochter», das erste Buch der Westschweizer Autorin Sarah Jollien-Fardel, spielt in einem Dorf in den Walliser Bergen. Eine Mutter, zwei Mädchen. Seit sie sich erinnern kann, sieht Jeanne, wie der Vater die Mutter und ihre Schwester schlägt. Tag für Tag. Es braucht nichts, und schon geht es los. Schreie, Beschimpfungen. Und vor allem Schläge. Sarah Jollien-Fardel erzählt das in einem Ton, der manchmal fast unerträglich nüchtern ist. Jeanne sieht alles. Sie verkriecht sich. Der Vater verschont sie. Vielleicht, weil er ihren Stolz spürt. Einmal schlägt er sie doch. Der Arzt, Doktor Fauchère muss kommen. Er kennt den Vater, weiss, dass er Alkoholiker ist, weiss auch, dass er seine Frau und seine Kinder misshandelt. Das ganze Dorf weiss es. Doktor Fauchère sagt nichts, geht mit einer lockeren Bemerkung darüber hinweg, als Jeanne ihn um Hilfe bitte. Jeanne flüchtet aus dem Alltag, den sie nicht erträgt. Versucht mit der Mutter und der Schwester, kleine Freuden zu geniessen. Sie muss vergessen, um zu leben. Und lernen, was Vertrauen heissen könnte. Ein Buch von verstörender Gewalt. Und zugleich von berückender Zärtlichkeit.

Sarah Jollien-Fardel: Lieblingstochter. Roman. Aus dem Französischen von Theresa Benkert. Aufbau-Verlag, Berlin 2023. 221 S., Fr. 33.90.

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