POSTKARTEN BUCHTIPP: Sprung ins Verderben

Hin und wieder hilft ein Blick in die Vergangenheit, um die Gegenwart, so komplex sie erscheint, etwas besser zu verstehen. Die seit über dreissig Jahren in der Schweiz lebende chinesische Autorin Wei Zhang hat mit ihrem Buch «Satellit über Tiananmen» ein solches Werk geschaffen, das sich mit Maos «Grossem Sprung nach vorn» befasst. Diese gigantische Kampagne, die das rückständige China industrialisieren und zur Weltmacht führen sollte, wurde mit unerbittlicher Härte geführt, die zu einer der grössten Hungersnöte der Menschheit führte. 

Wir befinden uns im kleinen Dorf Dongshan neben einer Stahlfabrik. Etwas abseits befinden sich zwei Strassen mit einfachen Häusern, in denen die Parteisekretärin, Grossmutter Guo, wohnt. Das Amt verpflichtet, im Sinne Maos Grosses zu erschaffen, Satelliten des Fortschritts in den Himmel zu schiessen. Ihr erstes Vorhaben, eine moderne Strasse zu bauen, scheitert ebenso krachend wie ein Hochofen, den Hausfrauen mit primitivsten Mitteln erstellen. 

Wei Zhang lässt das Dorf plastisch aufleben mit vielen Figuren. Sie beschreibt ihre Hoffnungen und Freuden, den Kampf zwischen altem Aberglauben und neuer Ideologie. Die Lautsprecher rufen neue Rekorde aus, peitschen die Frauen und Männer zu Höchstleistungen an, die irrwitzig, absurd und unrealistisch sind. Dafür werden Wälder gerodet, Landstriche geopfert, egal ob die Natur rebelliert. 

Die Autorin nähert sich den Protagonisten mit viel Menschlichkeit und Wärme, zeigt einprägsam und gelegentlich humorvoll-sarkastisch, was dieser «Fortschritt» für viele Menschen bedeutete: Eine Ideologie, die die Freiheit und das Individuum zugunsten des Übergeordneten opferte und 38 Millionen Hungertote forderte. In «Satellit über Tiananmen» ist eindrucksvoll zu sehen, wozu blindwütige Demagogen und Diktatoren auch heute fähig sind.

Wei Zhang: Satellit über Tiananmen. Elster & Salis Verlag. 379 S., Fr. 32.-

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Siehe auch «Eine Mango für Mao»