Ruth Schweikert: Ohio, 2005

Im Mittelpunkt des Romans «Ohio» von Ruth Schweikert steht die Geschichte von Andreas und Merete, die sich nach neun Jahren Ehe brüsk voneinander trennen. Auf eindrückliche Weise beschreibt die Autorin, wie die hoffnungsvolle Liebe eines jungen Paares an den Herausforderungen des Familienalltags mit zwei kleinen Kindern zerbricht.
Dabei beginnt alles so vielversprechend: Merete, die gelernte Kunsthistorikerin, und Andreas, der junge Assistenzarzt aus Celerina, treffen sich zufällig im bewegten Zürich der 1980er-Jahre. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie gründen eine Familie. Die anstrengende Ehe mit den beiden Kindern treibt Merete jedoch bald an ihre Grenzen. Sie muss ihre Dissertation über Paul Klee unterbrechen und findet kaum mehr Zeit für sich. Andreas, erschöpft und überlastet von der Arbeit als Assistenzarzt und Familienvater, gerät immer häufiger in Jähzorn. Es kommt zu gewalttätigen Szenen: Merete droht, ihr Kind aus dem Fenster zu werfen, Andreas wiederum schleudert in hilfloser Wut eine Lampe gegen die Wand.
Die Autorin erzählt nicht chronologisch. Vielmehr setzt sie den Roman virtuos aus Rückblenden und Erinnerungen zusammen und erzählt parallel zur Geschichte von Merete und Andreas auch jene ihrer Eltern und Grosseltern. Sie führt uns nach Deutschland und Italien. Die Mutter von Andreas wurde in den 1940er-Jahren aus Breslau vertrieben und musste fliehen. Der Vater wuchs als Kind italienischer Gastarbeiter in der Schweiz auf und verheimlicht ein Leben lang seine Liebe zu einem Mann. Andreas hat eine Schwester mit Trisomie 21, die eine traurige Sehnsucht nach Zuneigung und Zärtlichkeit hegt. Nur Merete kennt ihre eigene Geschichte nicht: Als indischstämmiges Findelkind wurde sie einst von ihrer Mutter in Durban auf der Strasse aufgelesen und adoptiert.
Mit beeindruckender Klarheit schildert die Autorin die Schicksale der verschiedenen Figuren. Unerwartet und fast beiläufig blitzen immer wieder Katastrophen des Alltags auf. Es ist diese Fülle an Erinnerungsfetzen und die überraschenden Überblendungen, die den Reiz dieses vielschichtigen Familienepos ausmachen. Der Roman beginnt mit dem Ende einer Liebe und der Frage nach dem Anfang. Am Schluss endet die Liebe wortlos, wie sie einst begonnen hat. Der Titel «Ohio» steht für einen Sehnsuchtsort, der nur im Traum existieren kann und in der Wirklichkeit unerreichbar bleibt, wie die Liebe zwischen Merete und Andreas, die sich im Alltag verflüchtigt.

Ruth Schweikert: Ohio. Fischer Taschenbuch, S. 224, etwa Fr. 13.-

Aus: 99 beste Schweizer Bücher

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  • Lebensdaten: 1965 (Lörrach/ Deutschland) – 2023 (Zürich)
  • Erstausgabe: Amman Verlag, Zürich, 2005
  • Lesetipps:«Erdnüsse. Totschlagen.» (1994), «Wie wir älter werden» (2015), «Tage wie Hunde» (2019)
  • Fussnoten: Mit ihrem Ehemann, dem Filmemacher Eric Bergkraut, und ihren drei gemeinsamen Söhnen hat Ruth Schweikert 2019 den Film »Wir Eltern« in Zürich gedreht.
    «Tage wie Hunde» (2019), das Journal ihrer Krebserkrankung sollte Ruth Schweikerts letztes Buch bleiben. Minutiös, mit der ihr eigenen Erzählwut erzählt Schweikert und überlässt uns ein offenes Ende.
    Sie ist am 4. Juni 2023 in Zürich im Kreis ihrer Familie 57-jährig an Krebs gestorben.

    #Liebe, Erinnerung, Sexualität, Familie, Ausbruch