S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren, 1968

Schwarze Erdbeeren

Hoch über der Rhône, mitten in der Bergwelt, erholt sich der Jura-Student Pierre von der Tuberkulose. Er lebt in der Pension «Les Marmottes», unternimmt ausgedehnte Wanderungen zu den Alpen, durchstreift Wälder und Wiesen. Eines Tages erblickt er Jeanne, eine Städterin, die im Bergdorf mit dem Bauern Anathas verheiratet ist, und verliebt sich in sie. Eine Affäre, eine grenzenlose Amour fou entwickelt sich zwischen Jeanne und Pierre. Pierre wird abhängig von seiner Geliebten, verliert zusehends den Kopf.

Ähnlich ergeht es Anathas’ jüngerem Bruder Gabriel. Mit ihm, einer «kriegerisch-rauen Schönheit», beginnt die junge Frau ebenfalls ein Verhältnis. Jeanne lebt ihr Leben ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, sehnt sich nach Unabhängigkeit und stellt sich gar ein Leben als Witwe vor. Eines Tages wird Anathas tatsächlich tot im Wald aufgefunden, sitzend am Weg. Möglicherweise ist er den Abhang hinunter gestürzt, so wie es bei Wilderern gelegentlich vorkommt.

Dennoch bleiben die Hintergründe mysteriös. Pierre, der am Vortag den sitzenden Anathas sah und kurz mit ihm sprach, wird von Gewissensbissen heimgesucht. Hätte er den nahenden Tod erkennen sollen? Hätte er ihm überhaupt helfen können? Und weshalb hat er die Dorfgemeinschaft nicht benachrichtigt?

Jeanne lebt ihre neue Rolle der trauernden Witwe überzeugend, obschon sie sich von ihrem Mann und der Gemeinschaft entfremdet hatte und ihre Beziehungen zu Pierre und Gabriel offen zeigte. Als sich Jeanne entscheidet, zu ihrer Schwester in den Nachbarkanton zu ziehen, bittet sie Pierre und Gabriel, sie zu begleiten. Beide haben zwar ihr Wesen und ihr Spiel mit ihnen längst durchschaut, doch willigen sie ein. Eine schwarze Erdbeere am Wegrand, und eine letzte Laune werden für Jeanne zum tödlichen Verhängnis.

S. Corinna Bille bettet diese leidenschaftliche Geschichte in eine atmosphärisch dichte, archaisch-mythische Naturlandschaft ein. Der Wald und die Bäume, die Wiesen und Gräser, die Bäche und Tropfen, die Schmetterlinge und Ameisen werden zu lebendigen Wesen, zentralen Protagonisten der Erzählung. Der Regen, der Nebel und die Abgründe verschmelzen mit Jeanne, Pierre, Gabriel und Anathas’ Innenleben. Die unerfüllte Liebe der drei Männer, die Vergänglichkeit und der Tod finden sich als wiederkehrende Motive in der Natur. Dies alles, ebenso wie die Gebräuche der Walliser Bauern, den Katholizismus mit seinen Ritualen und Prozessionen sowie das reaktionäre Umfeld, beschreibt Bille in einer suggestiven, poetisch-magischen Sprache. Aus dem Zusammentreffen von Tradition und Moderne, von Mensch und Natur entstehen stets unerwartete und inspirierende Konstellationen und grossartige Literatur.

S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren. Erzählungen. Verlag Nagel & Kimche, 2012, S. 178.
antiquarisch erhältlich 

Aus: 99 beste Schweizer Bücher

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  • Lebensdaten: 1912 (Lausanne) – 1979 (Sierre)
  • Originaltitel: «La fraise noire», LausanneLa Guilde du livre1968
  • Lesetipps: «Théoda» (1944), «Venusschuh» (1952; «Le Sabot de Vénus»), «Mädchen auf weissem Pferd» (1974: «La Demoiselle sauvage»), «Zwei Mädchenleben» (1979; «Deux passions»), 2024 «Meerauge» (1989 «Œil-de-Mer»)
  • Fussnoten: S. Corinna Bille, die mit dem Walliser Schriftsteller Maurice Chappaz in zweiter Ehe verheiratet war, erhielt 1974 für ihr Gesamtwerk den Schweizerischen Schillerpreis und 1975 den französischen Prix Goncourt de la nouvelle.

    #Liebe, Fremdsein, Dorf, Suche, Tod