Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben, 2012

Toto wird 1966 in der DDR geboren, einem »Land, in dem alte Nationalsozialisten Kommunismus spielten«. Er wächst in misslichen Verhältnissen auf, zunächst bei der alkoholkranken Mutter, die ihn in ein totalitäres Heim abschiebt, und dann als Verdingbub bei einer Bauernfamilie. In Totos Welt herrscht Trost- und Ausweglosigkeit. Physische und psychische Gewalt ist allgegenwärtig. Die Heimleiterin, die ärgste Feindin der Kinder, wird bestialisch zu Tode vergewaltigt.

Im Gegensatz zu »Candide«, der »in der besten aller Welten lebt« und von einer Katastrophe in die nächste schlittert, lebt Toto buchstäblich »in der schlechtesten aller Welten« – nur ohne jegliche Voltaire’sche Ironie, ohne zwischenmenschlichen Hoffnungsschimmer oder Happy End. Toto ist hässlich und ein Hermaphrodit, ein Zwitter. In seiner ostdeutschen Heimat erfährt er weder Liebe noch Zuwendung. Und im Westen ergeht es ihm nicht besser. Er wird von ein paar verblendeten Kommunismus-Verehrern in einem Auto über die Grenze geschleust und landet in einer Hippie-Kommune, in der er hie und da spitalreif geprügelt wird.

Eine ausserordentliche Eigenschaft besitzt Toto jedoch: das absolute Gehör und eine betörende Falsettstimme, mit der er die Menschen zu Tränen rührt. Doch selbst dieses Talent bringt ihn nicht weiter. Der Musiklehrer ekelt sich vor ihm und lehnt ihn ab. In einer heruntergekommenen Bar, in der er kurze Zeit singt, fliegt er wieder raus, genauso aus der Fabrik, in der arbeitet, oder dem Obdachlosenheim. Toto verstummt allmählich, weil niemand freundlich zu ihm ist, selbst dann, wenn er sich aufopferungsvoll für andere einsetzt. Schliesslich entdeckt er seine grosse Liebe, den Investmentbanker Kasimir, mit dem er in der DDR aufgewachsen ist.

Konsequenterweise geht Toto an seinem vermeintlichen Freund, der ihn ebenfalls ausnutzt,
zugrunde. Es erstaunt nicht, dass die vielfach ausgezeichnete Autorin und Wahlschweizerin Sibylle Berg als »Designerin des Schreckens« bezeichnet worden ist. Mit ihrem faszinierenden, obskuren und bisweilen abstossenden Roman »Vielen Dank für das Leben« rechnet sie gnadenlos mit unserer Welt, ihren Anschauungen und Ideologien ab. Sowohl der Kommunismus als auch der alles dominierende Kapitalismus macht Toto, zunächst Mann, dann Frau, krank und kaputt. Die Figuren, denen er begegnet, sind gefühllos, gleichgültig, kalt, sie tauchen auf und verschwinden wieder. In Sibylle Bergs konstruierter Welt hat es keinen Platz für Menschlichkeit.

Sie malt in drastischen, düsteren und schwarzen Farben ein gesellschaftskritisches Porträt mit eingängigen detailreichen Beschreibungen und Sätzen, die sich einbrennen: »Das Leben, dieser interessante biologische Umstand, hatte kein Mitleid, kein Gefühl, keinen überbordenden Sinn für Gerechtigkeit, und niemand schuldete einem das Geringste.« Toto ist einer jener unglücklichen Dauerverlierer, ein herzensguter Antiheld, der einem gerade wegen seiner Unschuld, Naivität und der grenzenlosen Bosheit und Brutalität dieser Welt derart ans Herz wächst.

aus: 99 beste Schweizer Bücher

  • Lebensdaten: 1962 (Weimar / Deutschland)
  • Lesetipps: »Ende gut« (2004), »Der Mann schläft« (2009), »GRM. Brainfuck« (2019)
  • Fussnoten: Die Wahlzürcherin, 2019 mit dem Schweizer Buchpreis und 2020 mit dem Grand Prix Literatur ausgezeichnet, ist eine engagierte und bedeutende literarische, gesellschaftskritische und politische Stimme. Nebst bisher 15 Romanen, zahlreichen Theaterstücken Und Hörspielen publiziert Sibylle Berg wöchentliche Kolumnen, Essays und Zeitungsartikel und engagiert sich in öffentlichen Debatten und in den sozialen Medien.