Urs Zürcher: Überwintern, 2020

Ein Söldner, dem eine Handgranate in der Ukraine die Hand weggerissen hat, irrt in seinem stinkenden Yakfell-Mantel durch die Basler Innenstadt. Er rempelt Leute an, würde die Frau, die sich ihm in den Weg stellt, am liebsten mit einer AK-12, seinem «Haustier», abknallen, hätte er sie zur Hand. Vor seinen Augen spulen sich wirre Szenen ab: Explosionen, Hinterhalte, Schiessereien und der Tod seines Freundes Benjamin. Ausgerechnet er. Beide am gleichen Tag zur Welt gekommen, am 19. August 1988, beide von ihren Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, entfremdet, beide aus der Bahn geworfen, auf ein neues Leben hoffend im Krieg, der «höchsten Form der Poesie». Bestehendes wird zerstört, um Neues zu ermöglichen, neue Perspektiven und eine neue Zukunft zu öffnen. Taumelnd und traumatisiert sucht sich Jonas, der Söldner, den Weg zu Benjamins Mutter, um ihr den Tod ihres Sohnes mitzuteilen, der in der Ukraine gefallen ist. Jonas hatte ihn nicht schützen können.

Urs Zürchers Roman «Überwintern» startet fulminant, gleich mit dem Höhepunkt. Von Beginn an kennen wir die Katastrophe, die Zerstörung von Lebensträumen, Weltentwürfen und Menschenleben. Und wir fragen uns, wie konnte es so weit kommen? Woher stammt dieser Drang, diese Sehnsucht nach exzessiver, ultimativer Gewalt? Wann und wo wurden die Weichen für die Radikalisierung zweier junger Männer gestellt, mitten in der Schweiz? 

Als Historiker ist Zürcher interessiert an sozialen Tiefenbohrungen, am Einfluss von Weltpolitik und Ideologien auf Gesellschaft und Individuen. Bereits in seinem Debüt «Der Innerschweizer» von 2014 spielt Zürcher mit der Frage nach einem möglichen anderen Verlauf unserer Geschichte und vermischt clever historische Wahrheit und Fiktion. In «Überwintern» übernimmt Zürcher die Technik der Spurensuche und entwickelt sie weiter zu einem eindrücklichen Roman mit starken Bildern und vielen berührenden Figuren und Episoden.

«Überwintern» ist ein Rückblende auf die letzten dreissig Jahre, jenen Zeitraum, in denen die beiden Protagonisten heranwachsen. Jonas stammt aus einer Arbeiterfamilie. Sein Vater ist ein Gewerkschaftsfunktionär, demonstriert an 1.-Mai-Kundgebungen an vorderster Front gegen den zerstörerischen Kapitalismus, bringt aber ausser Worten nichts Konkretes zustande, wie sein Sohn, ein dichtender Aussenseiter, moniert. Benjamin wächst hoch oben am Berg der Reichen auf, sein Vater ist Manager eines Pharmakonzerns und stirbt an Krebs. Ben, ein brillanter Jurastudent, wächst bei seiner Mutter Ella auf und führt ein aalglattes, oberflächliches Leben.

Zürcher verwebt gekonnt verschiedenste biographische und zeitgeschichtliche Mosaiksteinchen zu einem grandiosen Panorama: Drogen-, Sex- und Alkoholexzesse, gestohlene Autos, Autonomenszene, allerlei Beziehungen, plötzliche Todesfälle, Auf- und Ausbruch in die ostdeutsche Provinz, wo Jonas vom Links- zum Rechtsextremisten wird und seine schwangere Freundin verlässt; daneben die Kriege auf dem Balkan und im Irak, Amokläufe und Terroranschläge, Geiseldramen, die sich wie eine Blutspur durch die Lebensläufe von Jonas und Benjamin ziehen.

Ihre Schicksale scheinen wie jene von Zwillingen aneinander gekettet. Sie begegnen sich erstmals physisch in einer Schlägerei auf dem Pausenplatz, finden Jahre später zueinander. Zunächst zwei Gegensätze, die sich mit der Zeit immer stärker anziehen, schliesslich gemeinsam die «Poesie des Kriegs» in der Ukraine suchen – und alles verlieren.

Siehe auch Buchtipp Urs Zürcher: «Begehren»

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  • Lebensdaten: 1963 (Basel)
  • Lesetipps: «Der Innerschweizer» (2014) in 99 beste Schweizer Bücher; «Alberts Verlust» (2018), «Begehren» (2023)
  • Fussnoten: Urs Zürcher hat in Basel Geschichte, Philosophie und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft studiert und in Zürich bei Jakob Tanner promoviert. Danach war er Lehrbeauftragter an der Universität Basel, arbeitete als Projektleiter und als Lehrer an der Berufsfachschule Basel. Urs Zürchers Dissertation ist unter dem Titel «Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen» im Wissenschaftsprogramm des Campus Verlag erschienen. Daneben schrieb er diverse Aufsätze und Artikel in verschiedenen Zeitschriften.